Die Koala-Bärin zögert keinen Moment, bevor sie auf meinen Arm klettert. Sie ist groß, schwerer als erwartet und unglaublich weich. Ihr Atem riecht nach Eukalyptus-Bonbons. Florence heißt sie. Ich bin im siebten Himmel. „Florence ist fünf Jahre alt, sie wurde hier im Park von den Mitarbeitern aufgezogen“, sagt ihre Pflegerin. Sie hält Florence einen Zweig Eukalyptus-Blätter unter die Nase.
Koalas sind nur fünf Stunden am Tag wach. Während dieser Zeit fressen sie rund 1000 Eukalyptus-Blätter (das entspricht einer Blättermenge von etwa 60 Bäumen pro Jahr). Für unseres Fotoshooting darf Florence also keine Zeit verlieren.
Ich trage sie wie ein kleines Kind, mein linker Arm stützt ihr Hinterteil. Sie ist warm, das spüre ich durch den dunkelblauen Fließpulli, der mich vor ihren Krallen schützt. Mein Herz schlägt schnell an ihren Koalakörper. Ich bin sehr aufgeregt und glücklich. Am liebsten würde ich Florence gar nicht mehr hergeben. Alex knipst ein paar Fotos von uns beiden, bevor er sich neben uns stellt und mit uns in die Kamera eines Park-Mitarbeiters lächelt.
Der Cleland Wildlife Park liegt ungefähr 20 Minuten außerhalb von Adelaide, der Hauptstadt des australischen Bundesstaats South Australia. Zwei Wochen zuvor sind wir dort angekommen. Wir übernachten im Haus von Sunnee und Rob, die beide schon etwas älter sind und zusammen mit ihrer Hündin Kensie am Rand der Adelaide Hills leben.
Unsere vorerst letzte Nacht im Outback verbringen wir auf dem Ranges-View-Rastplatz, 370 Kilometer nördlich von Adelaide. Um 16 Uhr kommen wir auf dem staubigen Stellplatz neben dem Highway an. Nur wenige Meter entfernt donnern immer wieder Roadtrains, Lastwagenkombinationen zwischen 36,5 und 53,5 Metern Länge, an uns vorbei. Die überlangen Kraftfahrzeuge versorgen Australiens entlegene Gebiete mit Benzin und Nahrungsmitteln.
Zum Sonnenuntergang kochen wir Nudeln mit Pesto im offenen Kofferraum. Draußen ist der Wind zu stark zum Kochen. Nach dem Essen spülen wir das Geschirr mit Wasser aus dem Kanister, fließendes Wasser hat der Rastplatz nicht. Dafür eine Kompost-Toilette. Von dieser Sorte haben wir beim Campen schon einige kennengelernt. Die meisten waren überraschend sauber und geruchsarm.
Nachts halten uns die vorbeifahrenden Autos und Lkw wach. Um kurz vor 7 Uhr gebe ich auf. In meinen Schlafsack gekuschelt schaue ich dabei zu, wie die Sonne hinter der Flinderskette aufgeht. Gelborange leuchtet sie hinter dem Gebirgszug hervor. Vor dem Frühstück lese ich, wie meistens, noch eine Weile, während Alex neben mir schläft. Er hat morgens seine Tiefschlafphase.
Nach einem schnellen Frühstück am Picknick-Tisch brechen wir auf. Port Augusta ist die erste Stadt in Südaustralien, die wir erreichen. Wir tanken nur und fahren weiter. Hinter Port Augusta weicht die öde, trockene Buschlandschaft allmählich Gemüsefeldern, Kuh- und Schafweiden.
In Adelaide fahren wir gleich zum Supermarkt in unserer neuen Nachbarschaft. Der hat allerdings geschlossen – weil die Queen Geburtstag hat. Elisabeth II. wurde eigentlich am 26. April 1926 geboren. Traditionell wird der Geburtstag der amtierenden Monarchin beziehungsweise des Monarchen aber am zweiten Junisamstag gefeiert. Und das nicht nur in Großbritannien, sondern auch in denjenigen Commonwealth-Staaten, in denen Königin Elisabeth II. das Staatsoberhaupt ist.
Wir googeln, welcher Supermarkt geöffnet ist. In Australien kann man in der Regel noch bis spät abends und am Sonntag einkaufen. Wir finden einen Laden im Zentrum. Die Fahrt dorthin ist stressig; nach den langen, geraden Outback-Straßen sind wir den Verkehr nicht mehr gewöhnt.
Wir stellen Diggity im Parkhaus ab. Auf dem Weg durch die Fußgängerzone kommen wir uns vor wie Steinzeitmenschen. Unsere Umgebung erscheint uns extrem laut und hektisch, die Stadtbewohner stylisch und gepflegt. Wir tragen dieselbe Kleidung, in der wir abends zuvor im Kofferraum gekocht haben. Ich habe das Gefühl, man kann uns das Im-Auto-Schlafen ansehen. Nach fast zwei Monaten Camping müssen wir uns wohl erst wieder in die Zivilisation einfügen.
Neben Obst, Gemüse, Pasta und Reis landen in unserem Einkaufswagen viel Käse, Joghurt und frischer Lachs – Lebensmittel, auf die wir unterwegs, ohne Kühlschrank, verzichten mussten. Unser Fach in Sunnees und Robs Kühlschrank quillt fast über, nachdem wir alles eingeräumt haben.
Während Sunnee sich vor allem um ihre Airbnb-Gäste kümmert, arbeitet Rob in der Stadtverwaltung. Die beiden sind herzliche Gastgeber. Sunnee lässt uns von ihrer Suppe und ihrem Kürbiskuchen kosten, zum Abschied wird sie uns Mandarinen aus dem Garten mitgeben. Wir unterhalten uns oft, während wir das Abendessen zubereiten oder frühstücken.
Die meiste Zeit verbringen wir aber in unserem Zimmer. Wir müssen beide arbeiten. Alex zeichnet „Kuny&Venta“-Comics für die Stuttgarter Kinderzeitung, ich schreibe Blogeinträge, recherchiere und führe Interviews für Artikel. Außerdem lesen wir viel, spielen Switch, schauen Filme und Serien, telefonieren mit der Familie und Freunden. Abends gehen wir manchmal spazieren. Die Straße, in der Sunnees und Robs Haus steht, führt steil zu einem Aussichtspunkt. Von dort hat man einen umwerfenden Blick über Adelaide. Das Panorama vom Balkon ist aber fast genauso schön.
Adelaide gefällt uns sehr. Mit ihren vielen Kirchen, Backsteinhäusern und Laubbäumen erinnert uns die 1,3-Millionen-Metropole an Europa. Die Universität im Nordosten des Zentrums etwa könnte auch in England stehen. Über den Campus gehen wir zum South Australian Museum. Das staatliche Naturkundemuseum wurde 1847 gegründet, darin sind Aborigine-Artefakte, ausgestopfte Tiere und Fossilien zu sehen. Die Art Gallery of South Australia direkt nebenan mögen wir weniger. Die Ausstellung ist nicht nach Epochen oder Kunstströmungen, sondern thematisch geordnet.
Auch das National Wine Centre enttäuscht uns. Seine „interaktive Ausstellung“ besteht aus Schildern, die die Geschichte des Weinanbaus in Australien erklären; die Kästen, an denen man angeblich den Geruch verschiedener Weinsorten riechen kann, riechen nach billigen Duftkerzen.
Dafür verbringen wir einen schönen Vormittag mit Fish’n’Chips am Strand von Glenelg, besuchen den Samstagsmarkt und die deutsche Siedlung Hahndorf, spazieren durch den botanischen Garten und das Morialta-Naturschutzgebiet. Kurz vor Sonnenuntergang entdecken wir dort einen schlafenden Koala auf einem Baum und sehen ein Echidna, einen Ameisenigel (wir nennen es „Brot“, weil es auf Straßenschildern so ähnlich aussieht). Das stachelige, braune Wesen ist etwa so groß wie ein kleiner Rugbyball – und leider schnell wieder im Unterholz verschwunden.
Die Tiere im Cleland Wildlife Park sind zum Glück zutraulicher als der Ameisenigel. Nachdem ich Florence ihrer Pflegerin schweren Herzens zurückgegeben habe, erkunden Alex und ich den Rest der Anlage. Der Park liegt innerhalb des Cleland-Naturschutzgebiets auf den Adelaide Hills, er wurde 1967 für Touristen zugänglich gemacht. Kängurus, Emus und Enten können sich auf den großen, grünen Wiesen frei bewegen.
Hinter dem Entensee entdecken wir das erste Wallaby. Das kniehohe Känguru hält erst einmal Abstand. Alex schüttet ein paar braune Pellets aus einer Tüte Tierfutter in seine Hand und streckt sie ihm entgegen. Vorsichtig kommt das Wallaby näher. Es ist sich nicht sicher, ob es uns trauen kann. Nur noch wenige Zentimeter trennen das Tier vom Futter. Es bewegt seinen Kopf nach vorn – und frisst aus Alex‘ Hand. Er strahlt übers ganze Gesicht.
Andere Wallabys lassen sich sogar streicheln. Wir sehen hell-, dunkelbraune und graue Kängurus, solche, die aussehen wie Stofftiere und eins, das dicke Muskeln hat. Drei orangefarbene Dingos, die sich nicht groß von manchen Hunderassen unterscheiden, ein Wombat und einen Tasmanischen Teufel. Ich kann nicht aufhören zu lächeln. Als wir den Park verlassen, tun meine Wangen weh. Im Auto hole ich einen Umschlag aus dem Rucksack. Ich klappe ihn auf, schaue das Foto nochmal an. Das Bild von Alex und mir mit Florence, der Koala-Bärin. Wir sehen aus wie eine kleine, glückliche Familie.