Es herrscht Chaos in der Wohnung. Socken, T-Shirts und Windeln liegen auf dem Boden, unter dem Küchentisch Brotkrümel und Rührei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Amanda und Conor in 45 Minuten aufbrechen werden. Es ist 16.15 Uhr und die beiden machen sich bereit für die Abfahrt. Mit ihren Kindern Robin (3) und Mara (1) wollen sie die Weihnachtstage und Silvester bei Amandas Familie auf der Nordinsel Neuseelands verbringen. Alex und ich werden solange auf ihr Haus in Christchurch, der größten Stadt der Südinsel, ihre zwei Katzen und die Hühner aufpassen.
„Kann ich helfen?“, frage ich Amanda, die Mara eben noch gefüttert hat. „Nein, nein, alles gut“, sagt sie und hebt die Kleine aus dem Hochstuhl. „Kommt mit, ich zeige euch den Garten!“ Barfuß tritt sie auf die Terrasse. Sie trägt ein Sommerkleid, hat braune Haare und eine ruhige Stimme. Mara auf ihrem Arm ist blond und pausbäckig. Sie schaut uns mit großen Augen an. Ihr Bruder versteckt sich im Wickelzimmer. Neugierig lugt er hinter dem Türrahmen hervor und folgt uns in den Garten.
Der zieht sich wie ein von Obstbäumen und Blumen gerahmter Schlauch circa 30 Meter weit nach vorn. Amanda geht bis an sein Ende, zum Hühnerstall, einem überdachten Verschlag mit einem Häuschen, in dem die Hühner nachts schlafen. Zwei große, fluffige, schwarze Hühner, ein weißes und ein rotes Huhn begrüßen uns gackernd. „Das sind Tammy und Tammy, Anne und April“, sagt Amanda. „Tagsüber könnt ihr sie ruhig freilassen. Nur auf die Gemüsebeete sollen sie nicht.“ Ich frage mich, wie wir die Hühner davon abhalten können. Die Sojabohnen, Tomaten und Salatköpfe wachsen zwar in Hochbeeten, eingezäunt sind sie aber nicht. „Und wie oft sollen wir gießen?“, erkundigt sich Alex. „Es reicht, wenn ihr dem Gemüse abends etwas Wasser gebt“, sagt Amanda. Die Obstbäume und Blumen dürften sie wegen der Wasserknappheit gerade nicht gießen, erklärt sie.
Wir gehen zurück ins Haus. Conor – schlaksig, blonde Haare, Oberlippenbart – scheint überall gleichzeitig zu sein. Er packt Kleidung in die geöffneten Koffer im Essbereich zwischen Küche und Wohnzimmer, nimmt Spielsachen aus Robins Zimmer, trägt Taschen zum Auto. Alex holt unsere Handys aus dem Rucksack. Wir setzen uns auf die Terrasse, bleiben dort, um nicht im Weg zu sein.
Gegen 18 Uhr verabschiedet sich die Familie. Eine Stunde später als geplant, aber früher, als ich gedacht hatte. Conor hat Schweißperlen auf der Stirn, als er uns zum Abschied umarmt, ich drücke Amanda eine Dose mit selbstgebackenen Weihnachtskeksen in die Hand. Proviant für die Reise. Dann sind wir allein. In unserem Heim für die nächsten zwei Wochen, einem Einfamilienhaus im ruhigen Stadtteil Sydenham, das einstöckig ist und weiß, wie fast alle Nachbarhäuser. Alex kocht Nudeln, ich beziehe das Bett neu. Das haben Amanda und Conor nicht mehr geschafft in der Eile.
Monkey, die schwarze und jüngere der beiden Katzen, ist sofort zutraulich. Sie springt auf das noch unbezogene Bett, streicht mir um die Beine. Der schwarzweiße Kater Geoffrey ist zurückhaltender. Er weiß noch nicht, was er von uns halten soll und bleibt vorsichtig auf Abstand. Erst nach ein paar Tagen taut er auf, legt sich schnurrend zu uns aufs Sofa im Wohnzimmer, wo er die Nacht verbringt.
Alex und ich fühlen uns gleich wohl in unserem neuen Heim, auch wenn ich mir fest vornehme, am nächsten Tag zu putzen. Das Rührei unter dem Küchentisch hat Conor zwar noch weggesaugt, meinem Sauberkeitsstandard entspricht die Wohnung aber nicht. Dafür haben unsere Gastgeber uns ein Tännchen ins Esszimmer gestellt, an dem silberne Kugeln hängen. Wir freuen uns über den Baum. Trotz der sommerlichen Hitze versetzt er uns tatsächlich ein bisschen in Weihnachtsstimmung.
Die Tage vor Weihnachten verbringen wir größtenteils daheim. Alex muss arbeiten, ich schreibe neue Blogeinträge. Morgens füttere ich die Katzen und die Hühner, hole Eier; Alex gießt abends das Gemüse. Zu zweit kaufen wir Lebensmittel ein. Wir finden sogar Rotkohl im Glas für Heiligabend.
Der 24. Dezember beginnt mit Weihnachtsmusik am Frühstückstisch. Alex hat alles vorbereitet, mit der Weihnachtspost der Familie als Deko. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Von mir aus könnte es schon Abend sein – ich kann es nicht erwarten, die Weihnachtsgeschenke auszutauschen.
Das machen wir erst später. Nachmittags fahren wir mit dem Auto in den Victoria Park. „Ich hab mir den ganz anders vorgestellt“, sagt Alex, als wir am Rand eines Hügels parken. „Wie denn?“, frage ich. „Grün und schattig, in einem Tal“, sagt er. Stattdessen stehen wir auf einem Berg, über dessen braunes Gras der Wind fegt. Wir folgen einem Weg über den Berghang, im Wald drehen wir um. Wir haben noch viel vor an diesem Heiligabend.
Von 17 bis 19 Uhr kochen wir. Es gibt einen Salat mit Apfelstücken, Granatapfelkernen, Fetakäse und Walnüssen; Süßkartoffelpüree; Rotkraut mit Nelken. Dazu einen Nussbraten mit Tofu, Cashewkernen, Semmelbrösel und Rote Bete an einer Pilzsauce. Zum Nachtisch essen wir Eis und schauen Der Herr der Ringe: Die Gefährten an. Nachdem wir auf der Nordinsel Neuseelands das Hobbingen-Filmset besucht haben, kommt es uns überfällig vor, Frodos und Samweis‘ Abenteuer wieder einmal beizuwohnen.
Mit vollen Bäuchen telefonieren wir mit unseren Familien, bei denen es gerade einmal Mittag ist. Die Reste unseres Festessens reichen für die Weihnachtsfeiertage und die zwei fehlenden Herr-der-Ringe-Filme. Etwas anderes kochen wir erst, als Moni und Julian uns besuchen. Die zwei haben wir über Instagram kennengelernt. Sie sind, wie wir, auf Weltreise, waren schon in Malaysia und Indonesien.
Bei Chili sin Carne, Brot und Sour Cream unterhalten wir uns über unsere Erlebnisse. Julian, 26, kommt aus Freiburg, Moni, 29, aus dem Saarland. Kennengelernt haben sie sich Jahre zuvor bei einer Dschungeltour in Ecuador. Julian ist Informatiker, Moni möchte Lehrerin werden. Wir verstehen uns sofort mit den beiden, reden bis in die Nacht und spielen Karten. Beim Abschied steht fest, dass wir uns noch einmal treffen werden, bevor Alex und ich in den Norden der Südinsel zurückreisen.
Tags darauf unternehmen wir einen Ausflug zum Godley Head im Südosten Christchurchs, auf dem von 1939 bis 1963 eine Küstenschutzanlage mit bis zu 400 Soldaten eingerichtet war. Drei Stunden wandern wir um die Landzunge, hinter deren gelben Grasbüschel die Schafe verschwinden. Die Landschaft sieht aus wie in den Herr-der-Ringe-Filmen. Der Wanderweg windet sich oberhalb des türkisblauen Meers. Auf dem Rückweg halten wir am Strand, beobachten auf dem Sand sitzend die Wellen.
Silvester feiern wir nach einem thailändischen Abendessen im Hagley-Park im Zentrum. Dort ist eine Bühne aufgebaut, auf der mehrere Bands auftreten. Die Headliner sind L.A.B., eine Reggaegruppe aus Neuseeland. Sie spielen schon, als wir in einer langen Schlange für Zuckerwatte anstehen und jammen noch immer, als wir mit klebrigen Händen in der letzten Reihe der Menschenmenge vor der Bühne tanzen.
„Zehn, neun, acht…“ Um kurz vor Mitternacht zählen die Moderatoren des Abends die letzten Sekunden von 2019 herunter. Mit einem für deutsche Verhältnisse eher niedlichen Feuerwerk startet das neue Jahrzehnt. Die Kiwis (Neuseeländer*innen) um uns sind trotzdem beeindruckt, begleiten mit langen „Aaaaaahhhs“ und „Ohhhhhhs“ die bunten Feuerreigen.
Nachdem der letzte Knaller verpufft ist, lassen wir uns von der Menge nach draußen treiben. Wir sind mit Amandas und Conors Fahrrädern in die Innenstadt gefahren. Weil das so gut geklappt hat, nehmen wir uns vor, in den kommenden Tagen eine Fahrradtour zu unternehmen.
Der erste Januar ist ungewöhnlich warm und hat eine merkwürdige Lichtstimmung. Der Himmel ist voll dunkler, orangefarbener Wolken. Im Internet lese ich, dass der Rauch der Buschfeuer von Australien nach Neuseeland gezogen ist. Ich kann es kaum fassen: Von der australischen Westküste nach Christchurch sind es mehr als 2000 Kilometer! Die Rauchwolken haben den Ozean überquert.
Im Garten stelle ich fest: Dieses Jahr fühlt sich der erste Januar für mich nicht an wie ein Neuanfang. Vielleicht liegt es an der Wärme, es hat 29 Grad. Mir war nicht klar, dass ich Anfänge so stark mit Kälte verbinde – den Jahres- genauso wie den Tagesbeginn. Ich staune darüber, was Gewohnheit und kindliche Prägung bewirken kann. Und wie so oft an Neujahr lasse ich die vergangenen zwölf Monate Revue passieren. Alex und ich waren in Thailand, Malaysia, Singapur, Australien und Neuseeland. Mit dem Containerschiff sind wir von Kuala Lumpur nach Perth, fünfeinhalb Monate später von Brisbane nach Auckland gereist. Wir haben tolle Menschen kennengelernt, waren an wunderschönen Orten. Was 2020 für uns bereithalten mag?
In der ersten Woche einen Kinobesuch (Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers), einen Besuch in New Brighton (einer Vorstadt von Christchurch am Meer) und einen Fahrradplatten. Auf halber Strecke unserer Tour über die Banks-Halbinsel weicht die Luft aus meinem Hinterreifen. Immerhin bemerken wir den Platten direkt nach unserer Pause in Little River, circa 45 Minuten entfernt von Christchurch. Neben einer alten, roten Lok essen wir unser Vesper. An der Tankstelle nur ein paar Meter weiter pumpen wir den Reifen auf. Doch die Luft reicht nicht lange. Kaum haben wir Little River hinter uns gelassen, merke ich, wie mir das Treten schwerer fällt.
„Ist alles in Ordnung?“, tönt es da von hinten. Ein etwa 60-jähriger Mann im Fahrraddress schließt zu mir auf. „Nein!“, rufe ich. „Ich habe einen Platten.“ Zum Glück hat der Fremde eine Luftpumpe. Ich solle so schnell wie möglich zu unserem Parkplatz zurückfahren, rät er mir, die Luft halte bestimmt nicht lange. Also trete ich in die Pedale, fahre auf derselben Strecke, auf der wir gekommen sind, zurück zum Auto: An einem See entlang, auf dem Enten und schwarze Schwäne schwimmen, durch eine von blauen Blumen bestandene Ebene, über der die Mücken schwirren und einen Hügel hinauf zum Meer. Über die Steine ziehe ich das Fahrrad mit mir in Richtung Wasser. Ich atme tief ein und aus, lege ich mich auf den Rücken, warte auf Alex.
Am folgenden Tag kommen Amanda, Conor, Robin und Mara nach Hause. Wir verbringen den Morgen damit zu putzen und zu packen. Alex sammelt den Hühnerdreck im Garten ein, saugt Staub und macht das Bad sauber. Ich kümmere mich um die Wäsche, wische Staub und putze die Küche. Um 12 Uhr sind wir fertig. Das Haus ist sauberer als bei unserer Ankunft.