Vom Gipfel des St.-Paul-Felsens sieht Whangaroa aus wie eine Miniaturdorf. Modellhäuser und Spielzeugautos, umgeben von Wasser. Die Segelboote in den Buchten klein wie Kieselsteine, die grün bewaldeten Inseln zu viele, um sie zu zählen. Ich könnte Stunden im Gras sitzen und diesen Blick aufsaugen. Auf die Straße, die sich in Kurven um die Landzunge windet, auf die Austernfarmen, diese akkurat angelegten Felder im Meer. Alex sitzt neben mir, knipst Fotos, hinter uns stehen drei junge deutsche Frauen abwechselnd vor und hinter der Kamera. Der Hintergrund ist zu schön, um sie nicht zu fragen, ob sie auch ein Foto von uns beiden machen.
Der Abstieg ist fast genauso anstrengend wie der Aufstieg. Der Boden ist vom Regen aufgeweicht und rutschig, das Gras stellenweise nass. In meinen quasi profillosen Chucks schlittere ich meterweise nach unten, die Arme wie ein Pinguin auf Glatteis zur Seite ausgebreitet. Elegant geht anders, aber ich komme ohne hinzufallen zum Parkplatz.
Eine Woche zuvor verlassen wir Auckland. Auf dem State Highway Nummer eins fahren wir in unserem silbergrauen Diggitwo an der Ostküste, am Meer entlang, nach Norden. Die Hochhäuser Aucklands, der größten Stadt des Landes, weichen bald grünen Hügeln, auf denen, was für ein Klischeebild, Schafe grasen. Hin und wieder Kühe.
Auf dem Weg nach Waipu, unserem ersten Übernachtungsstopp, gehen wir in dem Küstenort Orewa am Strand spazieren und wandern zu einem Aussichtspunkt hinter dem Dorf Puhoi, das 1863 von böhmischen Einwanderern gegründet wurde. Nach knapp 120 Kilometern auf dem Highway führen die letzten acht Kilometer über Land- und Schotterstraßen. Das Haus von Tammy und ihrer Tochter Zoe liegt auf einem Berg. Die Aussicht auf das Meer ist atemberaubend. „Ich weiß nicht, wie Zoe jemals wieder in einer normalen Wohnung wohnen soll“, sage ich zu Alex, als wir abends mit zwei Tassen Tee auf der Veranda sitzen.
Zoe hat erst am vergangenen Sonntag ihren zwölften Geburtstag gefeiert, ihre Mutter arbeitet als Sozialarbeiterin in Whangarei. 45 Minuten fahre sie jeden Morgen, aber die Aussicht sei es wert, sagt Tammy. Sie hat rotgefärbte Haare und eine weiche Stimme. Vor wenigen Wochen ist sie mit ihrer Tochter und der Katze Moon in das Haus auf den Berg gezogen, wir sind ihre ersten Gäste.
Am folgenden Nachmittag fahre ich zum Strand und gehe einen Teil des Waipu-Küstenwegs. Alex bleibt in unserem Zimmer, photoshopt und zeichnet. Der Pfad führt unter Bäumen über dem Meer entlang, durch die Äste sehe ich aufs Wasser. Der Weg ist matschig, in den vergangenen Tagen hat es oft geregnet. Ich steige über Wurzeln, hangle mich an einem Seil hinab, hüpfe über die Stellen, an denen der Matsch knöcheltief ist. Freue mich über mein Mini-Abenteuer.
Abends nehme ich ein heißes Schaumbad – auch um die Flöhe loszuwerden, die wir aus Auckland mitgebracht haben. Tatsächlich liegen ein paar in der Wanne, nachdem das Wasser abgelaufen ist. Alex steigt gleich nach mir unter die Dusche.
Wir bleiben noch eine zweite Nacht, dann geht es nach Kerikeri, ungefähr zwei Stunden nördlich. Unterwegs nutzen wir in Kawakawa die wahrscheinlich weltweit schönste öffentliche Toilette. Das Gebäude in der Gilles Street, der Hauptstraße des Ortes, wurde von dem österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser gestaltet. Er lebte von 1973 bis zu seinem Tod 2000 in Kawakawa.
2006 war ich schon einmal auf dieser Toilette, als ich nach dem Abitur sechs Monate mit meiner Freundin Sabine durch Neuseeland gereist bin. „Ob ich noch einmal wiederkommen werde?“, frage ich mich beim Händewaschen.
In Kerikeri wohnen wir sechs Tage bei Belinda, 58, ihrer elfjährigen Tochter Adeka und der grau gelockten Hündin Marama, deren Name auf Deutsch Mond bedeutet. Wir arbeiten viel. Alex auf dem Bett, ich am Esszimmertisch mit Blick auf den moosgrünen Waipapa-Fluss und seine Segelboote.
Beim Kochen und Essen unterhalten wir uns oft mit Belinda. Sie hat eine Lücke zwischen den Schneidezähnen und eine Brille mit Gläsern, die mich an Schmetterlingsflügel erinnern. Ihre grauen Haare trägt sie fast immer zu einem Zopf gebunden. Auch Belinda ist erst kürzlich umgezogen. 25 Jahre lang hat sie in Auckland als Englischlehrerin gearbeitet. Mit viel Verantwortung und vielen Überstunden. Nachdem sie knapp an einem Burnout vorbeigeschlittert ist, verkaufte sie ihr Haus und zog nach Kerikeri. Hier, in der Ferienregion Bay of Islands, betreibt sie ein kleines Bed & Breakfast und arbeitet als Künstlerin. Im Flur und im Wohnzimmer hängen einige ihrer Bilder: vielfarbige, abstrakte Acrylfarbengemälde mit goldenen Schattierungen. Jeden Morgen gehe sie jetzt als Erstes in ihr Studio und male, sagt Belinda. Sie wirkt sehr entspannt und sehr zufrieden.
Was auch an ihrer neuen Umgebung liegen mag. Am Ausblick auf den Waipapa-Fluss, an ihrem Garten und der Natur um sie herum. Gegenüber von Belindas Haus, auf der anderen Straßenseite, führt ein Trampelpfad zu einem Bach, der sich über einen niedrigen Wasserfall in ein natürliches Basin ergießt. Dorthin bringt Belinda Marama im Sommer oft zum Schwimmen. Ein Stück die Straße hinunter beginnt der 3,5 Kilometer lange Spazierweg zu den 27 Meter hohen Rainbow Falls.
Nach Paihia, dem beliebtesten Urlaubsort der Region, sind es nicht einmal 30 Kilometer. Dort nehmen Alex und ich die Fähre nach Russell, auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Russell, damals noch Kororāreka, war im frühen 19. Jahrhundert die erste dauerhafte europäische Siedlung und von 1840 bis 1841 die erste Hauptstadt Neuseelands. Eine Stadt, in der Händler und Walfänger lebten, Seeleute und Sträflinge, die aus Australien geflohen waren. „Höllenloch des Pazifiks“ wurde Russell zu jener Zeit genannt. Neuseelands oberster Landvermesser, Felton Mathew, berichtete Kororāreka sei ein „abscheuliches Loch voll unverschämter, halbbetrunkener Menschen.“
1845 fiel ein großer Teil der Stadt den Flammen zum Opfer, als der Māori-Anführer Hōne Heke und seine Männer Kororāreka niederbrannten. Heke fühlte sich von den Kolonialisten getäuscht: Mit dem Umzug der Hauptstadt von Russell nach Auckland büßte die Gegend an Wohlstand ein. Darüber hinaus sicherte der Vertrag von Waitangi – den am 6. Februar 1840 neben einem Vertreter der britischen Krone und etwa 40 anderen Chiefs der nördlichen Māori-Clans auch Heke unterzeichnet hatte – den Māori nicht wie erwartet die Vorherrschaft über ihr Land. Im Gegenteil: Mit der Verfassungsurkunde überschrieben sie unwissentlich die Souveränität an Großbritannien. Ein Übersetzungsfehler mit Folgen. Die Schlacht um Kororāreka war der Startschuss für einen von vielen Kriegen zwischen Māori und Pākehā. Die sogenannten Neuseelandkriege hielten bis 1872 an.
Heute geht es in dem 800-Einwohner-Ort Russell gemächlicher zu. Die Touristen, die im Sommer mit der Fähre aus Paihia anreisen, sind die einzigen Unruhestifter. Sie kommen wegen des frischen Fischs und der schönen viktorianischen Gebäude an der Promenade: große, weiße Holzhäuser mit breiten, überdachten Veranden. Alex und ich wandern aus dem Ort heraus und durch den Wald zum Tapeka Point, einem Hügel mit Blick auf das türkisblaue Meer und die 144 Inseln der Bay of Islands.
Unterwegs, im Wald, raschelt es im Gebüsch. Wir bleiben stehen. Ein kleiner, brauner Vogel kommt aus dem Unterholz hervor. Er hat einen spitzen Schnabel und einen dicken Rumpf; fliegen kann er sicher nicht. „Ist das ein Kiwi?“, frage ich. „Ich glaube nicht“, antwortet Alex. „Die sind doch nachtaktiv.“ Zuhause finden wir heraus, dass wir ein Weka gesehen haben. Das Internet weiß alles.
Das Internet ist auch unsere Hauptinformationsquelle auf der Suche nach Orten, die wir auf dem Weg von einer Unterkunft zur nächsten anschauen können. Einen Reiseführer haben wir nicht: Wir wollen alles unnötige Gepäck vermeiden. Deshalb kaufen wir unterwegs auch keine Andenken. Neue Kleidungsstücke nur dann, wenn dafür ein altes wegkommt.
Auch unsere Unterkünfte buchen wir meist vorab im Internet. Wir sind froh um die vielen Airbnb-Zimmer, denn Hotels und sogar Jugendherbergen sind in Neuseeland teuer. Unser vorübergehendes Zuhause in Mangonui, „The Shack“, ist ein liebevoll eingerichtetes Tiny House mit zwei Zimmern, das unser Gastgeber Garth selbst gebaut hat. Zwei Monate lang, sagt er, habe er jeden Tag 15 Stunden gesägt und gehämmert.
Garth und seine Frau Vicky kommen aus Südafrika. Vor fünf Monaten sind sie von Auckland in Neuseelands nördlichste Region Northland gezogen. Zu stressig, zu hektisch war es ihnen in der Großstadt. Am Rand von Mangonui genießen sie jetzt das Landleben. „Ihr könnt ruhig im Garten herumlaufen“, sagt Garth uns bei der Ankunft. Sein Grundstück nimmt etwas mehr als einen Hektar ein. Kurz getrimmter Rasen, junge Zitrusbäume hinter grünen Netzen, ein Teich in einer Senke. Der Pool hinter dem Haus ist mit Salzwasser gefüllt, auch ihn dürften wir theoretisch nutzen. Garth selbst hüpft abends noch hinein. Wir kochen lieber, machen es uns in der „Shack“ gemütlich. Und schöpfen Kraft für die zweite Woche unseres Roadtrips durch den Norden Neuseelands.