Der Wind bläst über die Berghänge, macht den Aufstieg noch anstrengender, als er sowieso schon ist. Ich bleibe stehen, stülpe die Kapuze meines Fleecepullis über den Kopf, um meine Ohren zu schützen und warte auf Alex. Er quält sich einige hundert Meter hinter mir den Berg hinauf.
„Bis er da ist, dauert es bestimmt noch kurz“, denke ich. Ich ziehe das Handy aus der Jackentasche, öffne die Navigations-App und berechne die Strecke bis zum Gipfel. Da kommt Alex um die Ecke. „Gute Nachrichten!“, rufe ich ihm entgegen. „Jetzt sind es nur noch so 15, 20 Minuten bis zum Sattel!“ „Was?“, stößt er hervor. „Ich dachte, wir wären schon lange auf diesem Scheißsattel!“ Ich grinse und erkläre ihm, dass ein Bergsattel ein Gebirgspass ist. In diesem Fall die Senke zwischen zwei Gipfeln, dem 1748 Meter hohen Ben Lomond und dem Mount Joshua Keijers.
Unser Ziel ist der Ben Lomond. Aber so langsam wird uns beiden klar, dass wir den heute nicht mehr erreichen werden. Die Kräfte reichen nicht. Wir sind nicht, wie die meisten Wandernden, von der Gondelstation, sondern von ganz unten, aus einem Wohngebiet Queenstowns, aufgebrochen.
In Queenstown sind wir schon zwei Tage eher angekommen. Vom Mount Cook Village sind wir, mit einem Zwischenstopp in Wānaka, hergefahren. Das malerische 9000-Einwohner-Städtchen Wānaka ist ein beliebter Ferienort und für seinen gleichnamigen See bekannt. Wir fahren dorthin, um zu wandern. Ein bisschen zumindest. Vom Parkplatz folgen wir dem breiten Kiesweg auf den Roy’s Peak. Ein paar Serpentinen schaffen wir, vorbei an weißwolligen Schafen und Babyhasen. Die Sicht auf den Wānaka-See und die dahinterliegenden Berge ist umwerfend.
In Queenstown übernachten wir bei Katie. Sie wohnt im Vorort Lake Hayes Estate zwölf Kilometer außerhalb des Zentrums und vermietet drei Zimmer ihres Hauses. Queenstown ist sehr touristisch, so gut wie alle Unterkünfte sind überteuert. Im Winter stehen Wintersportarten, im Sommer Wandern, Bungeejumpen, Jetboot-Fahren und Mountainbiken hoch im Kurs.
Auch vom Ben Lomond führen einige Mountainbike-Strecken ins Tal hinab. Auf dem Rückweg vom Sattel ins Zentrum müssen wir aufpassen, weil die Radstrecken und Wanderwege sich im Wald unterhalb der Gondelstation oft kreuzen. Für den Abstieg brauchen wir nicht so lang wie für den Aufstieg. Ungefähr zweieinhalb Stunden sind wir hinaufgewandert, nach unten eine. Trotzdem müssen wir zwischendurch eine Pause einlegen. Die Knie zittern.
Zurück am Auto ruft Alex bei Fergburger an. Das Unternehmen soll die besten Burger Neuseelands braten. Als Burger-Fan muss Alex selbstverständlich einen probieren. Als wir an dem kleinen Laden ankommen, ist davor eine lange Schlange. Gut, dass wir angerufen haben! Wir können unsere Bestellung sofort an der Theke abholen.
Mit den Papiertüten in der Hand spazieren wir zum Lake Wakatipu und setzen uns auf eine Bank. Begleitet vom Schnattern zweier Enten packen wir unser Essen aus: Alex einen Fergburger mit Käse und Pommes, ich einen Tofuburger mit frischem Koriander. „Einer der zwei besten Burger auf der Reise!“, urteilt Alex. Den anderen gab’s in Phuket Town.
Zwei Tage später fahren wir weiter. Unser nächstes Ziel, zwei Stunden südlich, heißt Te Anau. Der 2000-Einwohner-Ort am gleichnamigen See ist das Eingangstor zum Milford Sound, dem bekanntesten Fjord Neuseelands. Auch der Kepler Track, eine der neun beliebtesten Wanderstrecken des Landes, startet in Te Anau. Den 60 Kilometer langen Rundweg lassen wir allerdings aus. Wir fahren mit dem Auto zum Milford Sound.
Am Ortsausgang von Te Anau nehmen wir Daniela und Mauricio mit, die mit ausgestreckten Daumen an der Straße stehen. Die Geschwister kommen aus Mexiko. Mauricio besucht seine große Schwester, die in Neuseeland lebt. Beide haben schwarzes Haar, tragen Outdoorkleidung und eine Brille.
„Wir werden auf dem Weg aber sehr viele Stopps machen, um zu fotografieren – ist das okay für euch?“, frage ich die zwei beim Einsteigen. „Klar!“, ruft Daniela. „Das ist perfekt!“ Die 29-Jährige weiß sehr viel über ihre Wahlheimat. Sie überlege, sich zur Reiseleiterin ausbilden zu lassen, erzählt sie. Momentan arbeite sie saisonweise in einem der Souvenirshops Te Anaus, „aber auf Dauer ist das nichts.“
Mauricio, 26, ist beim Film. Als Script Supervisor ist er für die Kontinuität zuständig – also dafür, dass zum Beispiel das volle Glas der Schauspielerin in der folgenden Szene nicht plötzlich leer ist. Alex, der täglich Filmtrailer und Nerd-Videos auf YouTube schaut, versteht sich sofort mit ihm.
119 kurvige Kilometer sind es von Te Anau zum Milford Sound, eine Stunde und 44 Minuten dauert die Fahrt laut Google Maps. Wir sind viel länger unterwegs, denn wir halten wirklich sehr oft an. Zu viele schöne Flussbäche, Spiegelseen, Wasserfälle und schneebedeckte Gipfel neben dem Highway. Die Sonne strahlt vom Himmel, wir haben einen guten Tag erwischt für unseren Ausflug. Vielleicht einen zu guten, denn so mystisch wie auf den Bildern, die wir vom Milford Sound kennen, wirkt der Fjord bei unserer Ankunft leider nicht. Die Uhrzeit ist ebenfalls ungünstig, um 13.30 Uhr strahlt die Sonne fast senkrecht vom Himmel. Kein gutes Licht für Fotos. Macht nichts, es ist trotzdem schön.
Wir parken und begleiten Daniela und Mauricio ein Stück auf ihrem Spaziergang. Wenig später trennen sich unsere Wege. Alex und ich haben eine Schifffahrt durch den Fjord gebucht, wir müssen los. Zum Ablegesteg sind es 15 Minuten zu Fuß. Zwischen den steil aufragenden Felswänden kommt unser Boot mir winzig vor. Rund 14 Kilometer sind es vom Hafen bis zur Tasmansee. Je näher wir der Meeresmündung kommen, desto windiger wird es. Das Boot schaukelt auf den Wellen. Wir fahren an schlafenden Seelöwen vorbei und so nah unter den ins Fjordwasser stürzenden Wasserfällen, dass diejenigen, die auf dem Außendeck bleiben, komplett nass werden. Im Wasserdampf sehen wir Regenbogen.
Auf dem Boot gibt es kostenlosen Tee und Kaffee und ein paar zerbrochene Kekse zum Probieren. Unsere belegten Brote haben wir schon vor der Bootsfahrt aufgegessen. Zurück auf dem Anlegesteg krame ich unsere letzten Müsliriegel aus dem Rucksack. „Ich hab‘ immer noch Hunger“, sagt Alex mit vollem Mund und reicht mir seine knisternde Müsliriegelhülle. Ich stecke sie zurück in den Rucksack. „Ich auch“, sage ich. Die zweistündige Rückfahrt nach Te Anau zieht sich. Unsere Gedanken kreisen ums Essen. Was haben wir noch im Kühlschrank, welche Speise geht am schnellsten?
In einer Kolonne anderer Fahrzeuge fahren wir zurück. Der Verkehr ist anstrengend. Vor dem 1,2 Kilometer langen Homer-Tunnel ist Stau. Eine halbe Stunde lang warten wir darauf, dass es weitergeht. Ich durchsuche die Schublade vor dem Beifahrersitz nach alten Müsliriegeln, finde aber keine. „Hab‘ ich schon erwähnt, dass ich Hunger habe?“, grummle ich.
Es dauert, bis wir die Jugendherberge erreichen. Als wir Diggitwo auf dem Parkplatz vor dem Gebäude abstellen, ist es schon nach acht Uhr. Wir machen uns sofort ans Kochen: Nudeln mit Tomatensauce und Gemüse, das unaufwändigste Gericht. Vor Hunger und Erschöpfung sprechen wir kaum miteinander in der Küche. Wir wissen beide, was zu tun ist. Schnippeln, Wasser aufsetzen, Zwiebeln und Knoblauch dünsten, Gemüse anbraten, Tomatensauce dazugeben. Die erste Portion essen wir schnell und schweigend. „So gut!“, sage ich. „Ich hol‘ mir noch einen Teller.“
In der Küche treffe ich unsere beiden Zimmergenossinnen und sehe, wie sich eine von ihnen mit den Fingern eine Nudel aus unserer Pfanne fischt. Ich bin zu perplex, um etwas zu sagen, und zu müde, um zu streiten. Ich warte einfach, bis sie weitergeht, schöpfe mir eine zweite Portion und setze mich zu Alex. „Du glaubst nicht, was eben passiert ist“, sage ich und erzähle ihm von der Nudeldiebin. „Echt?“ Alex lacht. „Na, Hauptsache, sie schnarcht nicht.“
Welch schön geschriebener Artikel! Hat richtig Spaß gemacht, den zu lesen. Und die Bilder sind ja atemberaubend!
Vielen Dank, liebe Laura! Wir haben uns eben deine Webseite angeschaut und sind begeistert von deinen Zielen vor dem 40. Geburtstag! Wie toll! Wir drücken die Daumen, dass alle davon in Erfüllung gehen 🙂