Keine fünf Minuten stehen wir auf der Aussichtsgalerie, als ein Wal aus dem blauen Teppich des Indischen Ozeans auftaucht. Wir sehen nur seinen Rücken und die Schnauze, und das auch nur weit weg. Trotzdem applaudieren wir und die anderen Besucher der „Logan’s Whale Watching Platform“: Die Walsaison in Südaustralien hat begonnen.
Wir schauen noch eine Weile aufs Meer, beobachten, wie der Wal ab und zu eine Wasserfontäne aus seinem Atemloch herausbläst. Auftauchen sehen wir ihn aber nicht mehr. Um uns herum tragen die Menschen Mützen, Schals und dicke Jacken. Es ist kalt und windig, ungemütlich.
Eine Viertelstunde warten wir noch, dann fahren wir weiter. Wir sind in Warnambool, am Eingang zur berühmten Great Ocean Road. 243 Kilometer führt die Straße mit dem offiziellen Namen B 100 aus dem Ort Allansford nach Torquay, rund 100 Kilometer südwestlich der Metropole Melbourne.
Die Great Ocean Road (GOR) wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von Soldaten gebaut. 14 Jahre lang arbeiteten 3000 Heimkehrer an der Straße. 1919 fingen die Arbeiten an, 1932 wurde der letzte Streckenabschnitt fertiggestellt. In diesem Jahr feiert die GOR ihren hundertsten Geburtstag.
Anders als vermutet, führt die Straße erst einmal nicht am Ozean entlang. Dichter Busch trennt uns vom Meer, erst 100 Meter rechts von uns beginnt das Wasser. Fast alle 500 Meter kündigen Schilder Aussichtspunkte an. Wir halten an so gut wie allen. An der Bay of Islands, der Bay of Martyrs, dem Grotto Scenic Lookout, dem Arch Lookout, der Loch-Ard-Schlucht und der London Bridge, auf der 1990 zwei Touristen festsaßen, nachdem das Verbindungsstück zum Festland weggebrochen war. Die beiden wurden zum Glück nicht verletzt, mussten aber mit dem Helikopter gerettet werden.
Im Auto ist es warm und windstill, sobald wir anhalten und nach draußen gehen, müssen wir unsere Regenjacken anziehen. Der Wind peitscht dunkelblaue Wellenblöcke gegen beigefarbene Felsen, die Gischt spritzt meterhoch nach oben. Die raue Landschaft ist unfassbar schön. Möwen kauern in Steinnischen in den Felsen, an manchen Orten treiben Surfer in dicken Neoprenanzügen im Wasser.
Rund 6,1 Millionen Touristen sollen die GOR jedes Jahr besuchen. Zu viele, sagen die Einheimischen. Ihrer Meinung nach kann die malerische Straße im Südwesten des Bundesstaats Victoria die Massen nicht mehr lange aushalten. Selbst jetzt, im australischen Winter, sind noch viele Touristen unterwegs. Wie es hier im Sommer aussieht, mögen wir uns gar nicht ausmalen.
An der bekannten Felsformation Zwölf Apostel kommen wir kurz vor Sonnenuntergang an. Das Licht lässt die Wellen, aus denen die bis zu 60 Meter hohen Kalksteinspitzen ragen, golden glitzern. An den Gibson Steps halten wir an diesem Tag ein letztes Mal. Die Treppenstufen sollen bereits vor hunderten von Jahren von dem Aborigine-Stamm Kirrae Whurrong in die Felsen gehauen worden sein.
Es ist schon dunkel, als wir auf dem Campingplatz ankommen, auf dem wir die Nacht verbringen werden. Das Princetown Recreation Reserve liegt sechs Kilometer östlich der Zwölf Apostel am Fluss Gellibrand. Außer uns sind nur noch vier, fünf weitere Übernachtungsgäste auf dem Areal.
Das Gelände sieht verlassen aus, auf dem Sportplatz in der Mitte grasen Kängurus. „Parkt euer Auto, wo ihr möchtet“, weist uns der Campingplatzwart an. In seinem Häuschen nennt er uns den Zahlencode für die Sanitäranlagen und informiert uns über die Campingregeln.
In der halboffenen Campingküche sind wir wenig später nur zu zweit. Das ist der Vorteil, wenn man im australischen Winter unterwegs ist: Man findet eigentlich immer einen Platz zum Schlafen. Lang vorher buchen müssen wir auf unserem Roadtrip durch den roten Kontinent nichts. Oft übernachten wir ohnehin in unserem Auto – auf kostenlosen oder günstigen Campingplätzen. Doch auch die Zimmersuche ist nicht schwierig.
Dass es Airbnb gibt, macht es uns leichter. Hotels oder Hostels können wir uns im teuren Australien kaum leisten. Während wir für die Unterkünfte in Asien selten mehr als zehn Euro pro Person und Nacht gezahlt haben, ist es hier eine Herausforderung, überhaupt etwas in der Preisklasse zu finden.
Nach einer kalten und unruhigen Nacht fahren wir am nächsten Morgen nach dem Frühstück weiter. Nachts hat es stark geregnet, der Boden ist aufgeweicht und nass. Die Kängurus sind leider schon verschwunden, als ich mit der Zahnbürste zu den Waschräumen gehe.
Der zweite Teil der Strecke ist kurvig. Alex sitzt am Steuer, so wird ihm nicht schlecht. Auf dem Weg nach Ocean Grove, wo wir ein Zimmer für die kommenden zwei Nächte gemietet haben, halten wir am Aussichtspunkt Castle Cove, spazieren durch den Farnwald „Maits Rest“ und essen am Teddy’s Lookout zu Mittag. Sandwiches und eine Dose Thunfisch. Nicht weit davon entfernt treffen wir eine Känguru-Familie. Das Junge, auf Englisch „Joey“ genannt, lugt neugierig aus dem Beutel seiner Mama.
Der letzte Abschnitt der GOR führt durch Eukalyptus-Wälder mit Blick auf Weidewiesen. Es sieht aus wie in Irland oder Neuseeland: Schafe grasen auf sanften, grünen Hügeln. Und dann, endlich, führt die Straße direkt am Meer entlang. Wolkenberge hängen über dem Ozean, ein Stück weiter regnet es, ein Regenbogen endet, ehrlich wahr, im Wasser.
Am Bell’s Beach schauen wir Wellenreitern zu. Als wir den Strand früh abends erreichen, liegen ungefähr 60 Surfer auf ihren Brettern im eiskalten Wasser. Immer wieder erwischt einer eine gute Welle, lässt sich von ihr in Richtung Strand tragen. Alex‘ Aufmerksamkeit gilt ihnen nur kurz. Er hat Freundschaft mit einer schwarzen Hündin geschlossen und muss Stöckchen werfen. Sie schaut uns traurig nach, als wir den Strand verlassen.
Um 17.30 Uhr kommen wir in Ocean Grove an. Unser Gastgeber ist nicht zuhause, seine Freundin begrüßt uns missmutig und ignoriert uns dann. Uns kommt das entgegen. Wir sind beide müde von der Fahrt. Während Alex unter der Dusche steht, koche ich frittierten Reis mit Gemüse. Später, im Zimmer, erledige ich ein paar liegengebliebene Dinge und telefoniere lang mit meiner Schwester.
Am Tag darauf müssen wir beide arbeiten. Erst am übernächsten Tag geht es nach Melbourne weiter . Auf dem Weg in die zweitgrößte Stadt Australiens – in Melbourne leben mehr als 4,9 Millionen Menschen – schauen wir uns den Leuchtturm von Queenscliff und das Art-Déco-Badehaus von Geelong an.
An der Promenade sehen wir, wie zwei Touristen in einen Hubschrauber steigen. Der fünfminütige Rundflug kostet umgerechnet 32 Euro pro Person. „Wer macht so etwas?“, frage ich Alex ungläubig. Für einen so kurzen Flug wäre es uns um die Umwelt und das Geld zu schade. Gut, dass wir beide dafür nicht der Typ sind. Zehnmal lieber stehen wir im frostigen Wind auf einer kostenlosen Aussichtsgalerie und beobachten einen Wal aus der Ferne.