Hunde und Kleinkinder haben mehr gemeinsam, als man im ersten Moment denken mag. Sie sind Frühaufsteher, mögen körperliche Nähe und verlangen viel Pflege und Aufmerksamkeit. Tara steht jeden Morgen schon um 6.15 Uhr vor unserer Tür und winselt. Man könnte den Wecker nach ihr stellen. Sobald ich die Tür öffne, drängt sich die schwarze Labradorhündin an mir vorbei in unser Schlafzimmer, droht schwanzwedelnd alles abzuräumen, was auf dem Nachttisch steht. „Guten Morgen“, sage ich leise. Alex blinzelt verschlafen vom Kopfkissen. Da kommt auch noch Chester, Taras blonder Kumpel, zur Tür hinein. Zu beiden Seiten unseres Betts stehen nun Hunde, die uns mit ihrer guten Laune und ihrem schweren Atem am frühen Morgen noch etwas überfordern.
Doch es hilft alles nichts. Um 7.30 Uhr ist es Zeit für den morgendlichen Spaziergang. Sandra und Colin, die Besitzer von Tara und Chester, sind im Urlaub. Sechs Tage lang passen Alex und ich in Rangiora, einer Kleinstadt circa 30 Kilometer nördlich der neuseeländischen Stadt Christchurch, auf die beiden Hunde und Noodles, den zweifarbigen Kater, auf. Er hat Tigerflecken auf weißem Fell und ist fast genauso rund wie die Hunde, aber weit weniger aufdringlich. Die meiste Zeit schläft er zwischen den Kakteen und Sukkulenten im Vorgarten.
Am Vorabend erreichen wir Rangiora. Sandra, Tara und Chester begrüßen uns in der Einfahrt, Colin ist noch arbeiten. Sandra ist klein. Sie hat ein rundes Gesicht, kurze, graue Haare und eine eckige, schwarzumrahmte Brille. Hin und wieder arbeitet sie zwar noch als Lehrerin, viel fehlt ihr aber nicht mehr bis zur Rente. Ihr ganzes Wesen strahlt Nettigkeit aus; ich kann mir nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die sie nicht mögen. „Kommt rein“, sagt sie, „ich zeige euch das Haus.“
Im Erdgeschoss befindet sich unser Schlafzimmer, dort stellen wir die Rucksäcke ab. Es ist schmal und altmodisch eingerichtet, Kinderbücher aus den 70er- und 80er-Jahren stehen in den Regalen. Außerdem ist da ein kleines Bad, Sandras und Colins Schlafzimmer und der Zugang zum Garten. Auf der Terrasse steht Taras Hundehütte. „Chester schläft hier drin in seinem Körbchen“, sagt Sandra und deutet auf eine Ecke, in der ein großes Kissen liegt. Sie dreht sich um und steigt die Treppe zum ersten Stock hinauf, zum Wohnzimmer und der offenen Küche. Das braune Laminat, mit dem die Küche ausgelegt ist und auf dem auch der Esstisch steht, dürfen Tara und Chester nicht betreten. Sie warten am Übergang von Laminat und Teppichboden, in der Hoffnung, dass etwas für sie abfällt, während Sandra uns die Speisekammer und den Inhalt der Küchenschubladen zeigt.
Auch beim Abendessen sitzen die zwei Hunde brav an der Trennlinie zwischen Küche und Wohnzimmer. Sandra hat Lachs gekocht. Davon landet ab und zu ein Stück bei ihnen. Colin berichtet von der bevorstehenden Reise. In der Nähe von Queenstown, rund 500 Kilometer südwestlich, wollen er und Sandra Vögel fotografieren. Nach dem Essen zeigen die Hobby-Ornithologen uns Alben voller Vögel – Fantails, schwarze Tuis, Albatrosse. Auf die Bilder von Kakapo Sirocco ist Colin besonders stolz. Sirocco ist das bekannteste Männchen des Kakapo-Zuchtprogramms. Die flugunfähigen, bis zu vier Kilo schweren Papageien mit dem hellgrünschwarzgesprenkelten Gefieder sind vom Aussterben bedroht.
Alex und ich gehen bald ins Bett, während Sandra und Colin noch ihre Koffer packen. Wir wissen, dass wir am folgenden Morgen früh aufstehen müssen. Mit Tara vor unserem Zimmer um 6.15 Uhr haben wir aber nicht gerechnet. Ich schicke die Hunde aus dem Zimmer. Müde ziehen wir uns an. Als ich die Tür öffne, erwarten uns unsere runden Labradore schon.
Auf dem Weg zum Auto stecke ich Leckerlis in die Hosentasche und nehme die Leinen vom Haken. Colin hat uns geraten, den Hunden während des Spaziergangs ein Leckerli zu geben, „so kommen sie immer zu euch zurück.“ Von Sandra haben wir schon am Vortag erfahren, dass sie Tara und Chester jedes Mal einen Keks gibt, bevor sie oder Colin das Haus verlassen. „Kein Wunder, dass die zwei so dick sind“, kommentiert Alex, als ich ihm ein paar der Kekse zustecke.
Immerhin schaffen die Hunde es, ohne unsere Hilfe in den Kofferraum zu hüpfen. Mit Sandras Auto fahren wir zum Strand. Die Fahrt dauert nur etwa zehn Minuten. Als wir am Parkplatz aussteigen, riecht es nach Salz und Pinien. Durch einen schmalen Streifen Nadelwald spazieren wir zum Meer. Um halb acht Uhr morgens sind noch nicht viele Menschen unterwegs. Die erste Viertelstunde haben wir den Strand für uns. Tara und Chester können ohne Leine gehen, an herumliegenden Ästen schnuppern, solange sie wollen – ein schwarzer und ein blonder Fleck vor dunklem Sand.
Der Strand ist lang, flach und unaufregend. Wir gehen nach links. Am rechten Strandabschnitt trainieren Sulkyfahrer mit ihren Pferden für Trabrennen. Rechts von uns schäumt das Meer, links streben die Bäume nach dem Himmel. Die Sonne blendet, kaum dass sie zwischen den Wolken hervorbricht. Bis auf das Rauschen der Wellen hören wir nichts. Ein Mann mit einem Hund tritt aus dem Wald, kommt auf uns zu. „Tara, Chester!“, ruft Alex. Schon trotten unsere beiden Pflegehunde gutmütig zu uns. Unsere neue Routine, sechs Tage lang.
Nach dem Spaziergang schauen wir in den Briefkasten und füttern wir die Tiere, abends gießen wir das Gemüse und die Blumen im Garten. Sonst haben wir keine Aufgaben. Nur die eigene, die eigentliche Arbeit. Alex zeichnet Comics, ich treffe mich in Christchurch mit der 33-jährigen Autistin Grace für einen Zeitungsartikel: Die Supermarktkette Countdown hat in Neuseeland eine „Stille Stunde“ eingeführt. Jeden Mittwoch von 14 bis 15 Uhr schalten die Mitarbeiter die Musik aus und unterlassen es, Regale einzuräumen. Das soll es Autist*innen erleichtern, einzukaufen.
Die Tiere sind pflegeleicht. Sie schlafen viel und würden am liebsten ständig gestreichelt werden. Nur einmal sorgen Tara und Chester für Aufregung. Als Alex und ich am zweiten Nachmittag vom Einkaufen zurückkommen, ist der Stoffhund, der an der Tür zum Garten saß, in tausende Stücke gerissen. Plüsch und winzige, weiße Plastikperlen liegen auf dem grünen Rasen. Es ist ein Stofftiermassaker.
Am Donnerstagnachmittag besuchen uns Moni und Julian, die wir über Instagram kennengelernt haben. Es ist unser dritter Koch- und Spieleabend. Die ersten beiden Treffen fanden in Christchurch statt, wo Alex und ich über Weihnachten und Silvester auf zwei Katzen und vier Hühner aufgepasst haben. Housesitting ist in Neuseeland weit verbreitet. Die Kiwis (Neuseeländer*innen) ziehen es vor, ihre Hunde und Katzen in ihrem gewohnten Umfeld zu belassen, statt sie in einer Tierpension unterzubringen, wenn sie verreisen. Es ist eine Win-Win-Situation: Die Tierbesitzer können beruhigt in den Urlaub fahren, wir haben eine Abwechslung vom Reisealltag und sparen dabei noch.
Moni und Julian wohnen und arbeiten vorübergehend in einem Hostel im Zentrum Christchurchs. Die beiden klingeln am späten Nachmittag. Sie haben Reis, Algenblätter und Wasabi mitgebracht, wir kochen Sushi und spielen Karten bis nach Mitternacht. Tara und Chester sitzen am Laminatrand, bis wir sie ins Erdgeschoss verbannen. Zeitgleich essen wir auf verschiedenen Stockwerken zu Abend.
Am folgenden Morgen fällt es uns schwer, früh aufzustehen. „Sag mal: Fettmops eins frisst aus Fressnapf eins und Fettmops zwei frisst aus Fressnapf zwei“, sage ich zu Alex am Frühstückstisch, nach dem Spaziergang. Ich kann nicht aufhören zu lachen, weil wir es beide nicht schaffen, diesen Satz zu sagen. Nachmittags putzen wir das Haus und sammeln den Hundekot im Garten ein. Sandra und Colin sollen sich wohlfühlen und nichts mehr erledigen müssen, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen. Abends essen wir den Rest Sushi.
An unserem letzten Morgen in Rangiora vergessen Tara und Chester, uns aufzuwecken. Später als sonst spazieren wir am Strand entlang, begleitet von anderen Hundebesitzer*innen. Zum Abschied bekommen unsere runden Freunde je ein Leckerli. Wie kleine Kinder freuen sie sich über die Kekse.