Zwölf Tage vor unserem Rückflug gibt es eine unerwartete Planänderung. Im New-York-Times-Newsletter lese ich, dass die EU US-Amerikanern zum 1. Juli womöglich die Einreise verbieten will. Wenn dem wirklich so wäre, könnten wir wohl nicht über Los Angeles nach Deutschland zurückfliegen. Ich öffne die Webseite unserer Airline: Tatsächlich sind im Juli keine Flüge mehr vermerkt. „Was soll das denn jetzt?“, murmle ich und logge mich mit unserer Buchungsnummer ein. Über der Buchung steht, ganz klein, dass es „changes“ bei der Flugroute gegeben hat und wir uns melden sollen. Ich echauffiere mich bei Alex: „Krass, dass die uns nicht mal anrufen! Wenn ich da jetzt nicht reingeschaut hätte, hätten wir das gar nicht mitgekriegt!“
Immerhin: ein Anruf klärt die Sache. Unser Flug von Auckland nach Los Angeles wurde vom 5. auf den 6. Juli 2020 verschoben. Außerdem hat die zweite Fluggesellschaft ihre Route geändert, der Flug von L. A. nach Frankfurt am Main startet jetzt schon um 15 Uhr statt eine Stunde später. Das bedeutet, dass wir unseren Anschluss verpassen. Eigentlich hätten wir direkt weiterfliegen können. Es dauert, bis die Mitarbeiterin am Telefon mir helfen kann, aber nach einer halben Stunde ist alles geregelt. Wir werden am 6. Juli abfliegen und eine Nacht in der Stadt der Engel verbringen.
In einem Airbnb, circa drei Kilometer vom Flughafen entfernt, werden wir übernachten. Da wir uns weniger als 48 Stunden in den USA aufhalten werden, müssen wir dem Gesundheitsamt Konstanz zufolge in Deutschland nicht einmal in Quarantäne. Ein wenig fragwürdig finde ich das Vorgehen zwar schon – ob man sich ansteckt oder nicht, hängt ja nicht davon ab, wie viel Zeit man in einem anderen Land verbringt, sondern ob man dort einer infizierten Person begegnet oder nicht. Andererseits bin ich froh, dass Alex und ich uns in Deutschland nicht gleich komplett isolieren müssen. Selbstverständlich haben wir uns trotzdem vorgenommen, den Kontakt während der ersten Woche auf nur wenige Personen zu reduzieren. Wir möchten niemanden unnötig gefährden.
Die letzten Tage bis zum Abflug vergehen selbst wie im Flug. Plötzlich ist er da, der Morgen des 6. Juli. Er startet genauso wie jeder Morgen der vergangenen drei Wochen. Katze Cashew hüpft frühmorgens auf meinen Bauch und schnurrt. Ich streichle sie im Halbschlaf, denke: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Alex und ich in zwei Tagen schon in Deutschland sein werden. Dass unsere Reise tatsächlich zu Ende geht.“
Unseren allerletzten Tag in unserer WG im Norden Aucklands gehen wir ruhig an. Wir haben Zeit, der Flieger wird Neuseeland erst abends verlassen. Ich mache Yoga, dusche und schaue die Tagesschau beim Frühstück. In Deutschland wird über die Abschaffung der Maskenpflicht in Läden und Geschäften diskutiert, der Kanzlerkandidat der CDU steht noch nicht fest. Danach verschicke ich noch eine Bewerbung. Alex möchte in Deutschland weiter frei arbeiten, ich suche nach einer Anstellung.
Wie immer packen wir auf den letzten Drücker. Mein großer Rucksack wiegt, inklusive aller Mitbringsel, knapp 16 Kilo – ungefähr drei mehr als zu Beginn der Reise, obwohl viele Sachen weggekommen sind. Unsere Campingausrüstung schenken wir unserem Mitbewohner Scott, er möchte demnächst auf einen Roadtrip durch sein Heimatland aufbrechen.
Um kurz vor 18 Uhr kommen Alycia und Jhonny von der Arbeit heim – gerade noch rechtzeitig, um uns zu verabschieden. Wir umarmen unsere Freunde ein letztes Mal, Scott fährt uns zum Flughafen. Während er über die Auckland Harbour Bridge fährt, erzählt er von seiner Zeit als Reiseleiter in Europa. Mit dem Bus hat er die meisten Länder des Kontinents bereist und Touristen betreut, was manchmal schwieriger gewesen sein muss, als auf eine Gruppe Kinder im Europapark aufzupassen.
Gegen 19 Uhr erreichen wir den Flughafen. Scott lässt uns vor dem Terminal aussteigen. Wir bedanken uns bei ihm und gehen ins Innere. Das Gepäck sind wir schnell los, doch der Sicherheitscheck ist noch nicht offen. Mit unserem Handgepäck setzen wir uns neben ein Restaurant, das wegen der Pandemie geschlossen ist. „Ich glaube, ich ziehe mal meine Maske an“, sage ich zu Alex. Auch die anderen Passagiere, die darauf warten, zum Boarding gehen zu können, tragen Masken. Es ist ein ungewohnter Anblick.
Gegen 20.30 Uhr sitzen wir endlich im Flugzeug. Dort ist es im Gegensatz zum Flughafen Vorschrift, eine Maske zu tragen. Ungefähr zwölf Stunden verbringen wir auf unseren Plätzen. Ich schaffe zweieinhalb Filme, bevor ich in einen unruhigen Schlaf falle. Mal ist es zu heiß, mal zu kalt, immer unfassbar stickig und laut – alles dröhnt, ständig redet jemand. Meine Füße sind trotz Übungen stark geschwollen, als wir das Flugzeug verlassen.
Ich bin erleichtert: Die erste Etappe ist geschafft. Der Sicherheitscheck in Los Angeles ist lascher als erwartet. Wir müssen die Masken zwar auch im Flughafen tragen und unsere Fingerabdrücke abgeben, aber dann sind wir auch schon am Rollband mit den Koffern und kurze Zeit später draußen.
Mit dem Bus fahren wir in Richtung Long Beach. Ich kann es nicht fassen, dass wir in den USA sind. Fasziniert schaue ich aus dem Fenster. Es ist 16.30 Uhr. Die Sonne strahlt aus dem wolkenlosen, azurblauen Himmel, neben der Straße recken Palmen ihre grünen Wuschelköpfe auf. Die Autos fahren wieder auf der „richtigen“ Straßenseite, Fußgänger sind nur wenige unterwegs. In einem Burgerladen neben der Bushaltestelle holt Alex sich eine Portion Fritten, bevor wir den letzten Kilometer zu unserem Airbnb gehen.
Das Haus, in dem wir übernachten, könnte einer US-Serie entsprungen sein – mit einer Veranda, akribisch gemähtem Rasen, zwei SUVs vor der Garage und zwei rot-weiß-gestreiften Flaggen. Der US-amerikanische Unabhängigkeitstag ist erst zwei Tage her. Wir ziehen unsere Masken an und klingeln. Kristin begrüßt uns ebenfalls mit Maske, zeigt uns unser Schlafzimmer und die Gemeinschaftsräume. Alex lässt sich sofort aufs Bett fallen, ich stelle mich unter die Dusche. Um 18 Uhr raffe ich mich auf und lasse mir von Kristin Helm und Fahrradschlüssel geben. Während Alex Schlaf nachholt, radle ich über die Hügel des Vororts El Segundo zum Meer.
Ich genieße die frische Luft und den Wind im Gesicht, sauge den Salzgeruch ein. Auch der Strand sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe: US-amerikanische Flaggen wehen an den kleinen, pastellfarbenen Holzhäuschen der Rettungsschwimmer. Auf den Wellen reiten Surfer, auf dem Sand liegen braungebrannte Menschen auf bunten Handtüchern; links neben dem breiten Fahrradweg, den ich mit anderen Radfahrern, Spaziergängern, Joggern und Skatern teile, stehen schicke Ferienhäuser hinter Kakteen.
Ich radle bis zum Manhattan Beach Pier, betrete die 283 Meter lange Seebrücke aber nicht, weil sich dort – trotz Abstandsregel und Maskenpflicht – die Flaneure drängen. Ich begnüge mich damit, ein paar Augenblicke die Leute zu beobachten und dem Meeresrauschen zu lauschen. Dann mache ich mich auf den Heimweg. Die Sonne steht tief, taucht die Küste in goldenes Licht. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. Ich bin zutiefst dankbar für alles, was Alex und ich in den vergangenen zweieinhalb Jahren erleben durften. Trotz des vorgezogenen Abbruchs und der ungewollten Rückkehr im Flugzeug hatten wir unfassbar viel Glück und Freude auf unserer Reise.
Wir bestellen Pizza und gehen früh ins Bett. Den folgenden Morgen starte ich mit Yoga – die Flugzeugverspannung hat sich nachts nicht gelöst. Alex und ich haben beide wenig Lust darauf, uns für weitere zwölf Stunden in einen engen Flugzeugsitz zu zwängen, aber es hilft nichts. Nach dem Frühstück fahren wir mit dem Bus zurück zum Flughafen. Obwohl es erst 11 Uhr ist, sind es schon wieder 30 Grad im sonnenverwöhnten Los Angeles.
Bis 15 Uhr müssen wir im Terminal warten, dann dürfen wir das Flugzeug betreten. Auf dem Platz links neben mir sitzt schon ein Mann. Er ist vielleicht zehn Jahre älter als wir, trägt einen hellbraunen Flanellanzug, aber keine Maske. Kaum habe ich es mir bequem gemacht, erzählt er mir von seiner Reise: Urlaub in Mexiko, mit dem Flieger in die USA, mit dem Zug weiter nach Los Angeles. Er sei so viel unterwegs gewesen, jetzt habe er genug vom Maskentragen. Ich fühle mich sofort unwohl und bitte ihn, die Maske trotzdem aufzusetzen. Er weigert sich. Zum ersten Mal in meinem Leben drücke ich auf den Knopf mit dem Flugbegleiter-Symbol.
Zu der Flugbegleiterin sagt der Mann, er habe ein ärztliches Attest. Doch als er es zeigen soll, stellt sich heraus, dass das gelogen ist. „Ziehen Sie bitte eine Maske auf“, fordert die Flugbegleiterin ihn auf. Seufzend zieht er eine Maske aus der Tasche, streift sie aber bloß über den Mund. Ich überwinde mich, sage: „Es tut mir leid, aber die Maske muss über die Nase.“ Er zieht sie bis zur Nasenspitze. „Über die Nase“, wiederhole ich. Er könne sich auch umsetzen, bietet der Mann verärgert an. „Sie können auch gerne hier bleiben, wenn Sie Ihre Maske richtig anziehen“, antworte ich. Kurze Zeit später habe ich zwei Plätze für mich.
Der Rest des Flugs verläuft ruhiger. Ich lese mein Buch zu Ende, schaue vier kurze und drei lange Filme an, schlafen können wir beide so gut wie nicht. Am frühen Morgen schiebt Alex die graue Blende vor dem Fenster nach oben, dahinter: typisch deutsche Felderlandschaft, braune und grüne Quadrate, Wiesen, Wälder. Mein Bauch macht einen Luftsprung: Heimat! Dass man das schon von oben sieht, freut und wundert mich. Die Felder der USA, die man aus dem Flugzeug sah, waren gelb und kreisförmig.
Uns tut alles weh, als wir um kurz vor 11 Uhr in Frankfurt am Main aus dem Flugzeug steigen. Es fühlt sich an, als hätten wir bei einem Marathon mitgemacht. Nur eben im Sitzen. Das Aussteigen dauert eine gefühlte Ewigkeit, es dürfen immer nur zwei Reihen auf einmal aus dem Flugzeug. Die vorderen Reihen beginnen, wir sitzen in Reihe 38. Im Hangar müssen wir noch einmal anstehen, bis diejenigen mit deutschem Pass nach vorn gerufen werden. Immerhin ist unser Gepäck schon da, als wir am Rollband ankommen. Dann geht es durch das Tor zum Ausgang, vorbei am Zoll, und da stehen sie: meine Mama und Alex‘ Eltern. Mit Masken und Tränen in den Augen. Für einen kurzen Moment vergessen wir die Pandemie und fallen uns in die Arme. Endlich sind wir angekommen.