Wir haben die Ausfahrt verpasst. Statt zur National Gallery fahren wir über eine Brücke ins Zentrum. In die entgegengesetzte Richtung. „Scheiße“, sage ich. Alex wischt hektisch über den Smartphone-Bildschirm, versucht herauszufinden, wo wir hin müssen. Ich halte mich auf der linken Spur, bereit für die nächste Ausfahrt. Diggity brummt und rattert. Wie immer.
Canberra ist ein Albtraum für Autofahrer. Die australische Hauptstadt wurde auf dem Reißbrett entworfen, weil die Australier sich nach dem Zusammenschluss der britischen Kolonien 1901 nicht darauf einigen konnten, ob Sydney oder Melbourne die neue Hauptstadt werden sollte.
Über die Straßenführung hat sich der federführende Architekt, der US-Amerikaner Walter Burley Griffin, wohl keine Gedanken gemacht. Immerhin ist der Verkehr nicht so schlimm wie in Perth oder Melbourne. Aber Canberra hat ja auch nur rund 390.000 Einwohner.
Indem wir eine große Acht fahren, die Brücke zum nunmehr dritten Mal überqueren, erreichen wir das Kunstmuseum. Endlich. Wir parken Diggity in der Tiefgarage, Autopause. Die Ausstellung gefällt uns sehr, an den weißen Wänden hängen Bilder von Albert Namatjira, Grace Cossington Smith, Mucha und Matisse.
Nach dem Museumsbesuch drehen wir aus Versehen eine Runde um das Parlament, das auf dem Hauptstadthügel thront und auf den künstlichen Burley-Griffin-See hinunterblickt. Dort schießt bei schönem Wetter von 11 bis 14 Uhr der Captain-Cook-Memorial-Jet, eine Wasserfontäne, 152 Meter in die Höhe. Vom Mount Ainslie schauen wir uns alles noch einmal aus der Vogelperspektive an. Der 843 Meter hohe Hügel bietet eine schöne Aussicht auf die australische Hauptstadt.
Während unserer Woche in Canberra besuchen wir außerdem das Australische Nationalmuseum, den Botanischen Garten, das Canberra-Museum, den Aussichtshügel Black Mountain und das Australische Kriegsdenkmal, an das ein sehr gutes Museum anschließt. Die tägliche Zeremonie um 17 Uhr, bei dem der gefallenen Soldaten und Kriegsopfer gedacht wird, wird live im Internet übertragen.
Die meiste Zeit aber verbringen wir im Vorort Holt, wo wir vorübergehend wohnen. Unsere kleine Einzimmerwohnung befindet sich direkt neben dem Haus, in dem unsere Gastgeberin Libby mit ihrer Familie lebt. Den Garten teilen wir uns. Zum Frühstück setzen Alex und ich uns gern auf die Terrasse. Beim Müsliessen und Kaffeetrinken schauen wir dabei zu, wie Libbys rote Hühner gackern und nach Futter picken.
Holt ist sehr ruhig, besteht fast nur aus Einfamilienhäusern und Sportplätzen. Um die Ecke ist ein Tierarzt und ein McDonald’s. Ich erkunde die Gegend in langen Spaziergängen, abgesehen davon leben wir quasi auf dem Bett, das fast den ganzen Raum einnimmt. Dort arbeiten wir, lesen, schauen Filme und Serien. Wir bingewatchen Dark, eine deutsche Netflix-Serie. Meistens gucken wir zwei Folgen pro Abend.
Libby ist sehr bedacht auf ihre Privatsphäre. Sie hat auch wenig Zeit, ist berufstätig, kommt erst abends nach Hause. Wir unterhalten uns nur einmal länger, als sie uns dabei hilft, die Waschmaschine zum Laufen zu bringen. Ihr Geheimnis ist mehrmals nacheinander fest mit der Faust auf den Deckel zu donnern. Das hätte ich mich nie getraut.
Libby erzählt von ihrem Aufenthalt in Deutschland, sie war 1991 in Berlin. „Eine spannende Zeit“, sagt sie, „so kurz nach dem Fall der Mauer.“ Und: „Ich spreche noch ein bisschen Deutsch.“ Auf Deutsch. Dann verschwindet sie wieder in ihrem Wohnzimmer.
Ein paar Tage später unternehmen Alex und ich einen Ausflug in den ungefähr 40 Kilometer entfernten Namagdi-Nationalpark. Durch einen Eukalyptuswald, in dem ein Buschfeuer gewütet zu haben scheint, wandern wir zum Aussichtspunkt Square Rock. Rechts des Wegs sind viele Baumstämme schwarz, die Büsche welk, verkokelt. Auf der linken Seite ist die Natur intakt. Der Steinweg hatte wohl die Funktion einer natürlichen Feuerbarriere inne.
Nach eineinhalb Stunden erreichen wir den Square Rock, einen Haufen grauer Felsblöcke, von dem man bis nach Canberra sehen kann. Mit meinem Teleobjektiv fotografiere ich den Captain-Cook-Memorial-Jet. Danach essen wir Pesto-Brote mit Paprika und Tomaten. Für den Rückweg brauchen wir nur eine Stunde. Auf der Webseite war für die neun Kilometer lange Wanderung eine Dauer von insgesamt vier Stunden angegeben. Die Australier, das haben wir schon in den Nationalparks Westaustraliens festgestellt, gehen in ihren Zeitangaben von sehr langsamen Menschen aus.
Nahe dem Parkplatz hüpfen Kängurus durch die Büsche, ansonsten sehen wir nur Vögel – und einen Wombat-Haufen, den das Tier akkurat auf einen abgesägten Baumstamm gemacht hat. Ich erinnere mich an die Geschichte vom Kleinen Maulwurf und muss lachen, als ich den zweiten Haufen entdecke, der so platziert wurde. Das kann kein Zufall sein! „Wombats mögen’s ordentlich“, denke ich. Tatsächlich markieren die Tiere mit den erhöhten Häufchen ihr Revier, wie ich später im Internet herausfinde.
Die Heimfahrt ist unproblematisch. Auf dem Weg nach Holt können wir das Straßengewirr des Zentrums einfach umfahren. Wenige Tage später verlassen wir Canberra. Auf dem Highway fahren wir in Richtung Sydney. Die Straßen der Hauptstadt, des Bundesstaats Australian Capital Territory, sie können uns nichts mehr anhaben.