Die Grenze zwischen Grau und Grau verschwimmt, verliert ihre Kontur am Horizont. Der tiefste See der Welt geht nahtlos in den Himmel über. Mystisch wäre wohl der passende Euphemismus für diesen Anblick. Tatsächlich ist er eher trist. Und etwas enttäuschend. Glitzernd-blaue Wellen, die omnipräsente Birke, Robben, die sich in der Sonne fläzen: So hatte ich mir den Baikalsee vorgestellt. Jetzt sitzen wir an seinem Ufer auf noch warmen Steinen und versuchen eine Weile erfolglos, Grau von Grau zu unterscheiden.
Der Baikal im Osten Sibiriens ist ein Sehnsuchtsort, ein See der Superlative: Mit 1624 Metern ist er der tiefste, mit mehr als 25 Millionen Jahren der älteste Süßwassersee der Erde. Wahrscheinlich ist er auch der nebligste. Bis zu 24 Nebeltage könne es in den Sommermonaten am Nordbaikal geben, schreiben die Autoren des Buchs „Baikalsee: Handbuch für Reisen in die Baikalregion.“ Im Süden, wo wir Ende Juli eine Woche verbringen, seien es pro Monat immerhin nur 18.
Seit wir im April unsere Fahrscheine für die Transsibirische Eisenbahn gebucht haben, freuen wir uns auf unsere Auszeit am Wasser. Doch bevor wir in Utulik am grauen Baikalsee ankommen, unterbrechen wir die Reise noch einmal für einen viertägigen Aufenthalt in Krasnojarsk, der drittgrößten Stadt Sibiriens. Wir sind gekommen, um im nahen Stolby-Nationalpark wandern zu gehen. Die Fotos im Internet sehen toll aus: Sie zeigen Felsformationen wie in der Sächsischen Schweiz. Von Nahem bekommen wir diese jedoch nicht zu sehen, denn das Naturschutzgebiet bleibt, als wir in Krasnojarsk sind, zehn Tage lang geschlossen. Die Bären „feiern jetzt Hochzeit“, heißt es auf einer russischen Nachrichtenseite – zumindest, wenn Google übersetzt.
Tausend Kilometer östlich verpassen wir nach einer 17,5-stündigen Zugfahrt knapp den Anschluss nach Utulik. Neuneinhalb Stunden müssen wir in Irkutsk auf die nächste Regionalbahn warten. Um die Wartezeit zu verkürzen, fahren wir mit der Tram in die Stadt, schauen uns ein Katzen-Denkmal und das von Lenin an. Auch am Fluss Angara knipsen wir ein paar Bilder, doch bei Wind und Regen mögen wir nicht lange bleiben.
Nach mehr als 32 Stunden unterwegs erreichen wir Utulik um 21.24 Uhr. Unsere Gastgeber Nataly und Fedor holen uns und vier weitere Feriengäste am Bahnhof ab. Auf einem unbeleuchteten Waldweg führt Fedor uns zu dem Holzhaus, das er vor Jahren selbst erbaut hat. Wir folgen den Taschenlampen unserer Smartphones, um nicht über Wurzeln zu stolpern oder in Pfützen zu stapfen. Nataly fährt mit dem Gepäck im Auto vorneweg.
In unserem Zimmer fühlen wir uns gleich sehr wohl. Das Bett ist bequem, die Wände und die Decke sind aus Holz. Der Duft erinnert uns an die Hütte bei Tuttlingen, in der wir Alex‘ 30. und 31. Geburtstag gefeiert haben. Nur die Geräusche sind ungewohnt. Die Wände sind dünn, wir hören das Rauschen im Bad über und den Fernseher hinter uns. Hundert Meter entfernt rauschen Lastwagen, Busse und Autos auf der Fernstraße vorbei. Auch das WLAN funktioniert nur sporadisch, aber das macht uns nichts aus. Wir genießen die digitale Pause. Für Notfälle und Instagram hat Alex schon in Moskau eine russische SIM-Karte mit Datenvolumen gekauft.
Wir richten uns schnell in unserem Leben im Dorf ein. An Regentagen arbeiten wir. In einem kleinen Ladengeschäft nahe des Bahnhofs besorgen wir uns Wasser, getrockneten Fisch und Schokolade. Von den Großmüttern und Großvätern, die auf Plastikstühlen unter Sonnenschirmen neben der Fernstraße sitzen, kaufen wir fast täglich Erdbeeren. Mit dem Bus fahren wir in die Nachbarstadt Baikalsk, wo sich der See in seinem schönsten Blau zeigt. Im Supermarkt decken wir uns mit Milch, Obst und Nudeln ein.
Auf ein Bad im See verzichten wir. Die Wassertemperatur liegt bei nur 16 Grad. Die Russen sind härter im Nehmen. Mit ihren Autos fahren sie nah ans Ufer, packen Grillgut und Durak-Spielkarten aus. Einige Familien sind nur für einen Nachmittag am See gekommen, andere zelten für eine Nacht oder länger. Manche schwimmen.
Wir unternehmen stattdessen Ausflüge in die Umgebung. Wir folgen dem Fluss Utulik, spazieren über einen Campingplatz, dessen Ferienhäuschen aus Holz in den 1960er Jahren gebaut wurden, durch einen Wald aus Birken und Nadelbäumen, zu einem Wasserfall. Mit der Seilbahn fahren wir auf den Zobelberg, die Gora Sobolinaya. Die 900 Meter hohe Erhebung ist winters ein Skigebiet. Im Sommer kommen vor allem Tagesgäste, die den Klettergarten besuchen und den Blick auf den Baikalsee genießen wollen. Als wir an einem Freitagnachmittag auf der Aussichtsplattform stehen, verschwimmt am Horizont die Grenze zwischen Blau und Blau. Der tiefste See der Welt geht nahtlos in den Himmel über.