Sibirien, sagt Onkel Wowa, sei der beste Ort der Welt. „Hier leben keine Bären, keine Schlangen und keine Skorpione. Es gibt keine Erdbeben oder Taifune.“ „Und keine Vulkanausbrüche“, fügt Tante Ira neben ihm hinzu. Sibirien, da sind sich die beiden einig, ist die Perle Russlands. Nur die Wege, die seien schwach, wiegelt Onkel Wowa mit einer Kopfbewegung ab. „Aber irgendwas ist ja immer“, sagt Tante Ira.
Ira, 58, und Wowa, 58, sind ein eingespieltes Team. Ein Paar, das schon so lange zusammen ist, dass die eine die Sätze des anderen vervollständigen kann. Ir(m)a, die kleine Frau mit den dunklen Haaren und den runden Knopfaugen, die im Haus fast immer eine bunte Schürze trägt, arbeitet als Direktorin der Dorfschule. Wowa, der eigentlich Wladimir heißt*, ein gestandener Mann mit weißem Haar, stahlblauen Augen und einer Tätowierung auf dem linken Unterarm, ist Kunst- und Informatiklehrer.
In der Schule wie daheim bestimmt die resolute Ira, was wann wie gemacht wird. Und jetzt wird erst einmal gegessen. Während Wowa eine Stunde lang mit dem Jeep nach Novoomskiy, einem Vorort der Millionenstadt Omsk, gefahren ist, um uns abzuholen, hat Ira ein Festmahl zubereitet: Zwiebäcke mit Tomaten, Gurken und Mayonnaise, einen Glasnudelsalat, gebratene Auberginen-Scheiben mit Käse, Frühlingszwiebeln und Petersilie und einen Salat aus Tomaten, Gurken und Dill. „Nur Gräser“, sagt Onkel Wowa und zwinkert, obwohl es auch gebratenen Fisch gibt, den er selbst gefangen hat.
Von vegetarischer Ernährung halten die meisten Russen nicht viel. „Wie wollt ihr denn eure schweren Rucksäcke tragen, wenn ihr kein Fleisch esst, Kinder?“, fragt uns auch Tante Ir(in)a, 66, bei der wir in Novoomskiy übernachten. Nach der 13,5-stündigen Zugfahrt von Jekaterinburg nach Omsk begrüßt sie uns in ihrem Wohnzimmer mit jeder Menge Essen. Sechs Tage verbringen im Verwaltungsbezirk Omsk, rund 150 Kilometer nördlich von Kasachstan. Dort besuchen wir die Schwester von Alex‘ Vater (Irina) sowie die Schwester (Lida) und den Bruder seiner Mutter (Wowa, verheiratet mit Irma) und deren Kinder.
In Jekaterinburg, der 1,5 Millionen Einwohner starken Industrie- und Universitätsstadt an der imaginären Grenze zwischen Europa und Asien, verbringen wir zuvor vier erlebnisarme Tage. Wir statten der obligatorischen Lenin-Statue einen Besuch ab, spazieren um den Gorodskoy-Prud-See und durch die Fußgängerzone und besichtigen die „Kathedrale auf dem Blut“, einen Wallfahrtsort für Anhänger der russischen Monarchie. Das Kirchengebäude wurde von 2002 bis 2003 an der Stelle errichtet, an der vor hundert Jahren Russlands letzter Zar Nikolaus II und seine Familie von Bolschewiki erschossen wurden. Abends schauen wir auf dem Laptop dabei zu, wie das WM-Sommermärchen für die russische Fußballmannschaft endet. Außerdem schicken wir ein Paket mit T-Shirts und Pullovern zurück nach Deutschland. Unsere Rucksäcke sollen leichter werden.
Mit etwas weniger Gewicht auf dem Rücken schließen wir am Omsker Bahnhof Tante Lida, 64, und ihre Söhne Denis, 39, und Maxim, 35, in die Arme. Für Alex ist es das erste Wiedersehen auf russischem Boden, 24 Jahre nachdem er sein Geburtsland das letzte Mal besucht hat. Sergej, 44, ein weiterer Cousin, stößt kurz darauf hinzu. Er fährt uns zu seiner Mutter Ira nach Novoomskiy. Mit ihr und Sergejs Tochter Anja, 13, essen wir zu Mittag. Es gibt Hähnchenschenkel, kalten Fisch, Borschtsch, gebratene Aubergine, einen Salat aus Gurken, Tomaten und Dill (die Gewürzpflanze ist in der russischen Küche im Sommer unverzichtbar), Brot, Salami, Käse, Pfirsiche und Pflaumen. Wir unterhalten uns auf Deutsch und Russisch, schauen uns erst die Gegend um Iras Wohnung und später alte Fotos an.
Am folgenden Morgen holt Onkel Wowa uns in seinem Jeep ab. Über Straßen, die einer Kraterlandschaft gleichen, fahren wir an blühenden Rapsfeldern und Birkenwäldern vorbei nach Krasnojarka. Einen Tag und eine Nacht besuchen wir das Dorf, in dem Alex die ersten fünf Jahre seines Lebens verbracht hat. Am Ortsschild steigen wir kurz aus, machen ein Selfie und schicken es per WhatsApp an Alex‘ Eltern: Grüße aus der alten Heimat.
Minuten später parkt Wowa den Jeep vor der Garage. Tante Ira und Vitali, Alex‘ Cousin, erwarten uns schon vor der Haustür. Auch Vitja, 24, arbeitet an der Schule, an der seine Eltern unterrichten. Er ist Sportlehrer. Nach dem Mittagessen gehen Onkel Wowa, Tante Ira, Alex und ich durch die vier langen, parallelen Straßen Krasnojarkas. Durch die Uliza Swjosda (Sternenstraße), die Uliza Lenina (Leninstraße), die Uliza Sowjetskaja (Sowjetstraße) und die Uliza Kolkonenskaja (Kolchosenstraße). Wowa und Ira zeigen uns die Häuser, in denen früher Verwandte und Bekannte gewohnt haben. Die meisten von ihnen leben jetzt in Deutschland. Vitja begleitet uns im Auto. Ira hat darauf bestanden, damit wir schnell einsteigen können, „falls es regnet“. Natürlich soll sie Recht behalten.
Obwohl Sommerferien sind und der Schulboden erst einige Tage zuvor neu lackiert wurde (Ira: „Ich liebe die Ordnung!“), führen uns Wowa, Ira und Vitja durch ihren Arbeitsplatz. Ira hat einen Generalschlüssel. Sie öffnet uns erst die Tür zu ihrem Büro, dann zur Aula, zum Lehrerzimmer, zur Sporthalle, zum Schulmuseum, zu den Klassenzimmern und zu der Kantine, in der Alex‘ Großmutter Ekaterina einmal als Köchin arbeitete. Der intensive Geruch von frischer Farbe begleitet uns von Raum zu Raum.
Als Nächstes gehen wir am Kindergarten vorbei, den Alex als kleiner Junge besucht hat, zu dem Haus, in dem er mit seinen Eltern und seinem großen Bruder lebte. Das zweistöckige, pastellgelb angestrichene Gebäude mit dem niedrigen, weißen Holzzaun und den zwei Birken an der rechten Seite steht am Ende der Uliza Lenina. „Wollt ihr reinkommen?“ Der Frau, die mit ihrer Familie in Alex‘ Elternhaus wohnt, sind unsere neugierigen Blicke nicht entgangen. Wir treten ein, gehen zaghaft durch den Flur und schauen in die Zimmer, die zu beiden Seiten abgehen. „An die Küche kann ich mich erinnern“, sagt Alex. Auch den früheren Arbeitsplatz seines Vaters können wir uns ansehen. Die große Werkstatt wenige Hundert Meter neben dem Wohnhaus steht offen.
Als wir den Weg zum Friedhof einschlagen, fängt es tatsächlich an zu regnen. Wir setzen uns schnell ins Auto, fahren die letzten hundert Meter. Onkel Wowa steigt als Erster aus, geht voran zum Grab von Alex‘ Urgroßmutter. Er hat Handschuhe und ein Messer mitgebracht. Mit routinierten Handgriffen entfernt er die hohen Halme, die hinter dem weißen Metallzaun wachsen, legt den Blick frei auf den Grabstein und das ovale Foto Ekaterinas, der Mutter von Alex‘ Großmutter Ekaterina. Das Bild zeigt sie als ernste Frau mit geraden Augenbrauen, einer hohen Stirn und schwarzen Haaren. Von ihr hat Alex seine Haarfarbe.
Auf dem Friedhof ist es still, außer einer Frau und ihren beiden Mädchen sind wir der einzige Besuch, den die Ahnen der Bewohner Krasnojarkas an diesem Nachmittag bekommen. Grillen zirpen in dem Gras, das an manchen Stellen bis zur Schulter reicht. Tante Ira führt uns weiter, zu den Gräbern ihres Vaters, ihrer Großmutter und zum Grab von Alex‘ Urgroßmutter Maria. In der Nähe ein kleiner Grabstein ohne Foto. Die Inschrift: Leonid und Lidia. Die Geschwister seien im Alter von fünf und drei Jahren gestorben, als der Bruder versuchte, die kleine Schwester vor dem Ertrinken zu bewahren. „Das war aber noch vor unserer Zeit“, sagt Onkel Wowa.
Auf dem Rückweg merke ich, dass meine Sonnenbrille kaputt gegangen ist. Irgendwo auf dem Friedhof Krasnojarkas liegt der glasflaschengrüne linke Bügel meiner Brille. Ein Stück von mir, auf unbestimmte Zeit verloren in Alex‘ ehemaliger Heimat. Obwohl das Plastik sicher schlecht für die Umwelt ist, mag ich den Gedanken.
Vor dem Abendessen sind wir wieder zuhause. Vitja verschwindet und kommt nach kurzer Zeit wieder, er treibt die Kuh Majka, die den Tag auf der Weide verbracht hat, in den Stall hinter dem Haus. Morgens und abends wird sie gemolken. Aus ihrer Milch stellen Wowa und Ira Schmand und Butter her. Auch sonst kaufen die beiden nur wenige Produkte in dem einzigen Laden Krasnojarkas. Sie haben Hühner, die Eier legen, und drei Schweine, die im Herbst geschlachtet werden. Auf den Beeten links neben ihrem Haus wachsen Erdbeeren, Rote Beete, Tomaten, Gurken, Knoblauch, Karotten und Frühlingszwiebeln. Ein Stück weiter hinten stehen Apfelbäume und Johannisbeersträucher.
Zum Frühstück gibt es Pfannkuchen. Ira hat gekocht und ihre Portion schon gegessen. Wowa sitzt mit uns am Küchentisch und zeigt uns, wie man die dünnen Fladen seiner Meinung nach essen muss: Erst eng aufrollen, dann in die Schüssel Marmelade tunken. Seine Lachfalten sind überzeugend. So schmecken die Pfannkuchen auf jeden Fall am besten!
Nach dem Mittagessen und einer langen Runde Katzenstreicheln verabschieden wir uns von Vitja und von Krasnojarka. Onkel Wowa und Tante Ira fahren uns nach Omsk. Sie zeigen uns die zentrale Uliza Lenina, das Theater, die Stadtverwaltung und die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale. Anschließend setzen sie uns bei Tante Ira in Novoomskiy ab.
Bei ihr verbringen wir zwei weitere Tage. An einem kommt Alex‘ Cousine Galia, 41, mit ihrer Familie zu Besuch. Am anderen treffen wir uns mit Alex‘ Cousins Denis und Maxim in Omsk. Die beiden spazieren mit uns durch den Park „Imeni 30-Letiya Pobedy“ und am Fluss Irtusch entlang, an dessen Ufer im Sommer, bei etwas unter 30 Grad, die Badetücher dicht nebeneinander liegen. Wir schlendern durch die Stadt. In einem Café verspeisen wir nachmittags Unmengen Kuchen. Abends fahren wir mit dem Bus zurück nach Novoomskiy, wo Tante Ira schon auf uns wartet. Auf ihrem Sofa schauen wir uns zu dritt das Finale der Fußballweltmeisterschaft an.
Nach sechs Tagen bei der Familie geht die Reise am Omsker Bahnhof für uns weiter. Tante Lida, Denis und Maxim sind gekommen, um uns zu verabschieden. Sie lassen es sich nicht nehmen, uns beim Tragen unseres Gepäcks zu helfen und uns zum Gleis zu begleiten. Der Zug steht schon bereit. Wir umarmen die drei zum Abschied. Als wir ihnen aus dem Fenster zuwinken, zieht Maxim schnell das Handy aus der Tasche, macht ein Foto. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen. In Sibirien, dem besten Ort der Welt.
Sehr nette Geschichte. Toll geschrieben und wahnsinnig cool von Alex entfernten Verwandten zu lesen.
Vielen Dank Thommy!!! 😀 <3
Hallo, ich habe gerade den ganzen Beitrag über Krasnojarka gelesen.
Ich stamme selbst aus diesem Dorf.
Habe sogar mein Elternhaus gesehen, und die Verwandtschaft von Alex kenne ich auch.
War sehr interessant Sie alle zu sehen.
Hallo Anna!
Wie toll, dass wir dein Elternhaus erwischt haben. Ich kann mich auch noch gut an dich erinnern 🙂 Die Zeit in Krasnojarka war wirklich sehr schön und extrem spannend für uns beide.
Es freut uns sehr, dass du auf unsere Seite schaust. Wir grüßen dich ganz lieb aus Saigon!
Alex und Mella.