Alex und Krank werden keine Freunde. Das steht schon am Tag unserer Ankunft fest. In Geraldine, im Zentrum von Neuseelands Südinsel, passen wir zwölf Tage auf die Katze und drei Hühner auf, während ihre Besitzer im Urlaub sind. Krank, klein und grau getigert, ist eigentlich eine weibliche Katze. Alex nutzt trotzdem das Pronomen „er“, wenn er über sie spricht. „Er ist richtig schlecht gelaunt heute.“ „Er hat mich schon wieder angeschnauzt.“ „Das hat er doch mit Absicht gemacht!“
Ihn beim Nintendo-Switch-Spielen erschreckt zum Beispiel. Tatsächlich scheint Krank – die angeblich nach einem Fahrradteil, nicht nach dem englischen Wort für Griesgram, „crank“, benannt wurde – ständig schlecht gelaunt zu sein. Sie miaut vorwurfsvoll, wenn wir ihr Futter nicht schnell genug servieren oder wenn wir nicht gleich die Tür aufmachen, sobald sie in den Garten will.
Dazu kommt die verstopfte Nase. Alex ist allergisch gegen Katzen. Mit den meisten hat er keine zwar Probleme. Bei Krank ist das anders. Schon nach wenigen Stunden sind Alex‘ Nasenschleimhäute angeschwollen, bekommt er kaum noch Luft. Lüften hilft nicht. Die Pollen, die vom Garten hereinschweben, sobald wir die Fenster öffnen, machen alles nur noch schlimmer. Zum Arbeiten zieht Alex sich notgedrungen ins Schlafzimmer zurück. Die einzige katzenhaarfreie Zone. Der einzige Ort im Haus, an dem er normal atmen kann.
Ich arbeite im Wohnzimmer. Meist auf dem Sofa, mit dem Laptop auf dem Schoß. Krank stört sich daran nicht. Sie läuft über die Tastatur, schreibt „1111111111aaaaaahhhhhheeeeezz“ in meinen Text. Dann legt sie sich neben mich, stößt ihren Kopf gegen meine Hand, mag gestreichelt werden. „So komme ich doch zu nichts!“, sage ich ironisch-vorwurfsvoll und streichle sie natürlich doch. Ich mag Krank, trotz ihrer notorisch schlechten Laune. Morgens füttere ich erst sie, dann die Hühner. Danach legen wir uns aufs Sofa. Sie schnurrt, ich lese, bis Alex aufsteht, Zeit fürs Frühstück ist.
Unsere Aufgaben als Housesitter sind überschaubar: die Tiere füttern, die Pflanzen im Haus und im Garten gießen, die Hühner morgens aus dem Gehege lassen und abends wieder einsperren, die Eier einsammeln. Nach ein paar Tagen haben wir so viele, dass wir nicht mehr wissen, wohin damit. Wir essen Spiegel- und Rühreier zu Mittag, backen Plätzchen. Die Eier werden nicht weniger. Die Himbeeren auch nicht. Jeden Morgen fülle ich einen Teller mit den prallen, saftig-roten Beeren, die im Garten unter einem großen Netz wachsen. Hin und wieder verirrt sich ein Vogel darunter, flattert hektisch von einem Eck ins andere. Einen erwischt Krank fast, als sie mit uns im Garten ist. Sie ist ein Profikiller. Während wir in Geraldine sind, erlegt sie einen Vogel und einen Baby-Hasen. Den Igel, der eines Abends über die Holzdielen der Veranda läuft, sieht sie zum Glück nicht.
Wir fahren von Dunedin nach Geraldine. Drei Stunden dauert die 230 Kilometer lange Fahrt ohne Unterbrechung. Wir halten schon nach 75 Kilometern bei den Moeraki Boulders – Kugelfelsen, die bei Ebbe wie die Murmeln eines unachtsamen Riesen am Koekohe-Strand liegen. Die Moeraki Boulders bestehen aus Schlamm, feinem Lehm und Ton und werden von dem Mineral Calcit zusammengehalten. Den Legenden der Māori zufolge sind die vier bis fünf Millionen Jahre alten Kugeln versteinerte Körbe voll Flaschenkürbisse und Süßkartoffeln, die vom Wrack des legendären Kanus Āraiteuru an die Küste gespült wurden. Wir spazieren einmal um die Steinkugeln herum, knipsen Fotos von den Felsen, uns und den anderen Touristen. Dann geht die Fahrt auch schon weiter.
In Geraldine begrüßen uns Pat und David. Sie sind die Eltern von Tony, dem das Haus und die Tiere gehören. Die beiden sind im Wohnzimmer, als wir ankommen. Sie zeigen uns die Zimmer und den Garten, entschuldigen sich für die Spinnweben über dem Eingang. „Das Haus ist ein ehemaliges Bauernhaus und schon über 100 Jahre alt“, sagt Pat. Sie und ihr Mann David sind vor zehn Jahren von Großbritannien nach Neuseeland gezogen, um näher bei ihrem Sohn und der Schwiegertochter zu sein. Inzwischen können die beiden sich ein Leben in England gar nicht mehr vorstellen. „Das Klima und die Lebensweise sind hier viel angenehmer“, sagt David.
Tonys Haus ist von Rinderweiden umgeben. Morgens und abends brettert der Milchwagen, ein Lkw mit riesigem Tank, auf der Schotterstraße vor der Veranda vorbei. Sonst passiert nicht viel. Auch im Zentrum von Geraldine geht das Leben gemächlich seinen Gang. Rund 2300 Einwohner leben in dem Ort 140 Kilometer südlich von Christchurch im Hinterland der neuseeländischen Südinsel. Jeden Samstag findet ein Bauernmarkt statt, bei dem Erzeugnisse aus der Umgebung verkauft werden. Eier, Honig, Himbeeren. Dazu spielt oft eine Liveband.
Etwas außerhalb von Geraldine wandern wir auf dem Orari Track. Der 3,3 Kilometer lange Rundweg führt durch einen Laubwald aus Farnen, einigen Tōtara-, Kahikatea- and Mataī-Bäumen. Mehr Aussichten und Abwechslung bietet der Hooker Valley Track, der nahe dem Mount Cook Village, ungefähr 190 Kilometer westlich, startet. Dorthin fahre ich ohne Alex. Er kümmert sich um Krank und die Hühner, während ich die Wanderung gehe, die eigentlich schon Wochen früher geplant war.
An einem Donnerstag gegen Viertel nach elf fahre ich los. Vorbei an den türkisblauen Gletscherseen Tekapo und Pukaki, bedrängt von ungeduldigen neuseeländischen Autofahrern. Ich habe es nicht eilig. Um 14.30 Uhr erreiche ich die Jugendherberge am Rand des Mount Cook Village. Ich checke ein, verstaue meine Schlafsachen in einem Spind im Achterzimmer und fahre zum Ausgangspunkt der Wanderung zweieinhalb Kilometer weiter. Draußen wechseln sich Sonne und Wolken ab.
Der Wanderweg ist gut besucht. Ein breiter Steinpfad, eingebettet zwischen den Neuseeländischen Alpen. Neben mir folgen Familien, Backpacker, aber auch viele Ältere, dem Weg entlang des Hooker River. Der Großteil der fünf Kilometer langen Strecke verläuft flach bis zum Hooker-See, über dem der Aoraki/Mount Cook thront, der höchste Berg Neuseelands. Ich wandere die meiste Zeit ohne Ablenkung, ohne Musik oder Podcast. Dafür halte ich oft an, um zu fotografieren. Am Hooker Lake setze ich mich kurz, bevor ich mich auf den Rückweg mache. Der Wind bläst über das graubraune Wasser, der Gipfel des schneebedeckten Aoraki versteckt sich hinter den Wolken.
Eineinhalb Stunden später bin ich zurück am Auto. Ich steige ein und fahre zum zehn Kilometer entfernten Tasman-See. Die Treppen zum Aussichtspunkt spüre ich deutlich in den Oberschenkeln. Der Ausblick lohnt die Anstrengung. Von einer Bank ganz oben überschaue ich den Gletschersee, der durch den Rückzug des Tasman-Gletschers entstanden ist. Mit der Kamera zoome ich auf die hochhaushohen Eisschollen. Vor ihnen treiben drei Boote als winzige, gelbrote Punkte im Wasser.
Hungrig komme ich an der Jugendherberge an. In der Küche, zwischen anderen Reisenden, koche ich Nudeln mit Pesto. Danach schaue ich The Crown auf dem Handy im Aufenthaltsraum und trinke eine Limo aus dem Flur-Automaten. Ich habe kein Bedürfnis nach Austausch, genieße es, einfach abschalten zu können und nach diesem schönen, aber auch anstrengenden Tag früh ins Bett zu gehen.
Nach einer unruhigen Nacht im knarzenden Stockbett und einem schnellen Frühstück fahre ich nach Geraldine. Alex begrüßt mich vor der Haustür. „Ich hab‘ dich vermisst!“, sagt er, küsst und umarmt mich. Obwohl wir nur eine Nacht voneinander getrennt waren, kam uns die Zeit ohne einander ewig vor. Krank hat es nicht so mit Romantik. Sie springt auf die Motorhaube, zeigt ihren Bauch und beißt mich, als ich den streichle. „Typisch“, knurrt Alex. Krank und er sind noch immer keine Freunde.