Alex steht ganz vorne auf dem Schiff. Er breitet die Arme aus, ruft: „Ich bin der König der Welt!“ Leonardo di Caprio für zwei Sekunden. Naja, fast. Mit seiner neongelben Schutzweste und dem weißen Helm ähnelt er eher Bob dem Baumeister.
Für unseren Rundgang um das Containerschiff müssen wir beide Schutzkleidung tragen. Das ist die Vorschrift. Wir befinden uns auf der CMA CGM Amber, auf dem Weg von der Ostküste Australiens nach Auckland, der größten Stadt Neuseelands. Und jetzt mitten auf der Tasmansee. Die Sonne scheint, der Wind bläst uns ins Gesicht, bis zum Horizont sind nur Wellen und Wolken. Vier Tage dauert die Überfahrt, die Distanz beträgt 2288 Kilometer. Luftlinie. Ohne Flugzeug spüren wir, wie weit das wirklich ist.
Die letzten Tage in Australien verbringen wir in Brisbane, der Hauptstadt des Bundesstaats Queensland. Insgesamt fünfeinhalb Monate sind wir durch den roten Kontinent gereist, nun sind es nur noch 48 Stunden bis zur Abfahrt.
In Brisbane haben wir ein Zimmer in einem roten Backsteinbau im Vorort Windsor gemietet. Wir wohnen bei Lindsey, die Psychologie studiert und vor ein paar Tagen 34 geworden ist. Sie öffnet uns die Tür im Bademantel, mit zusammengeknotetem Haar und halbfertigem Make-up. „Sorry, dass ich so aussehe“, sagt sie. „Ich feiere heute Abend meinen Geburtstag nach.“
Lindsey zeigt uns das Wohnzimmer, die Küche, unser Schlafzimmer. Dann verschwindet sie im Bad. Wenig später holt ein Freund sie ab. Alex und ich freuen uns über den sturmfreien Abend, den ersten ohne Tiere in vier Wochen. Wir vermissen Anzac, Tonka und Matty, auf die wir in Redland Bay, circa 50 Kilometer südlich von Brisbane, aufgepasst haben. Gleichzeitig genießen wir es, nicht mehr ständig Ball spielen oder uns mit einem Silky Terrier und einem schwarzen Kater aufs Sofa quetschen zu müssen. Wir bestellen Pizza, schauen einen Film an, essen Süßigkeiten.
Tags darauf fahre ich mit der S-Bahn in die Innenstadt. Alex muss arbeiten. Ich besuche das Stadtmuseum und die Kunstgalerie des Bundesstaats Queensland, nehme an einer Führung durch den Uhrenturm des Rathauses teil. Brisbane gefällt mir. Die Stadt hat ein leichtes, sommerliches Flair, obwohl gerade Winter ist. Die Bewohner und Touristen wirken entspannt.
Mit dem Zug und einem Uber fahren Alex und ich am folgenden Nachmittag zum Containerhafen. Am Sicherheitstor werden wir schon erwartet. Wir müssen unsere Reisepässe zur Überprüfung vorlegen, danach fährt uns ein Hafenmitarbeiter zum Schiff. Die CMA CGM Amber, ein wuchtiger Containerberg mit blauem Rumpf und weißem Brückengebäude, ragt wie ein Hochhaus vor uns auf. Neben ihr fährt ein gelb-rot gestreifter Kran auf Gleisen hin und her, belädt sie piepsend mit Containern. Wir legen die Rucksäcke ab, warten. Es riecht nach Öl und Salzwasser, nach Abenteuer.
Ich mache ein Foto von der Amber. Da erst fällt mir der Mann ein paar Meter neben uns auf. Er trägt einen Fahrradhelm, eine kurze Hose und ein T-Shirt in den Farben der Vietnam-Flagge: rot mit einem gelben Stern auf der Brust. Definitiv kein Seemann. Vielleicht ein weiterer Passagier?
„Hi“, sage ich und reiche ihm die Hand. „Ich bin Melanie, das ist Alex. Fahren Sie auch nach Neuseeland?“ Er gibt erst mir, dann Alex die Hand. „Ja“, sagt er. Sonst nichts. Damit gebe ich mich natürlich nicht zufrieden. Ich frage so lange nach, bis ich herausfinde, dass er Stéphane heißt, Franzose ist und seit zwei Jahren mit dem Fahrrad um die Welt fährt. Dass er am Nordkap war, in Iran, Usbekistan, Japan, Australien und an vielen Orten mehr. Dass er insgesamt fünf Jahre um die Erde radeln möchte: durch Neuseeland und einige Länder Afrikas, durch Kanada, die USA und Lateinamerika. Dass er vorhat, manche Ozeane im Schiff zu überqueren, andere im Flugzeug.
Stéphane zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, zeigt uns ein Foto seiner Route. Zu unserer Reise stellt er keine Fragen. Sein Englisch sei nicht so gut, sagt er, und scrollt weiter, ohne uns noch groß zu beachten.
Etwa 20 Minuten später bedeutet uns ein Hafenmitarbeiter, ihm auf die wackelige Leiter neben dem Schiffsrumpf zu folgen. Alex und ich helfen Stéphane mit seinem Gepäck. Für einen Radreisenden hat er überraschend viele Taschen. Wir schultern unsere eigenen Rucksäcke, die Leiter schwankt bei jedem Schritt. Das Geländer fühlt sich ölig an, hinterlässt eine dunkle Schmiere an den Händen.
Auf dem Deck müssen wir uns ins Logbuch eintragen, dann erst dürfen wir in das Schiffsinnere. Im Büro sitzen der Kapitän und ein paar andere Crewmitglieder. „Setzt euch!“, weist der Kapitän uns an und zeigt auf die Bank neben sich. Er ist ein massiger Mann mit kurzem, schwarzem Haar und dunklen Augen. Sein zerknittertes Hemd und seine Augenringe lassen ihn leicht ungepflegt wirken. „Wollt ihr etwas trinken?“, fragt er. Er wartet unsere Antwort nicht ab, sondern greift hinter sich und zieht vier Dosen Pepsi aus einer Kühltasche, stellt sie vor uns auf den Tisch. Seine Dose zischt, als er sie öffnet. „Wir warten auf den Zoll“, sagt er. Schweigt.
„Darf ich?“, fragt Stéphane und hält eine Packung Zigaretten hoch. „Ja, ja“, brummt der Kapitän und steckt sich selbst eine von Stéphanes Zigaretten an. Der Rauch wabert über unseren Köpfen. Im Büro ist es heiß, mir wird ein bisschen schlecht vom Zigarettendunst. Alex steht auf und geht aufs Deck, ich nehme einen Schluck Pepsi, drücke die kühle Dose in den Händen.
Die Zollbeamten lassen auf sich warten. Kurz bevor sie ankommen, treten Simon und Lina durch die Tür. Die zwei Schweizer sind auf der Amber von Ningbo (China) nach Brisbane gefahren. Davor haben sie mit der Transsibirischen Eisenbahn Russland durchquert und sind durch China gereist. Ein Jahr lang wollen sie ohne Flugzeug unterwegs sein. Die kommenden vier Monate in Australien, sagt Lina: „Dann geht es nach Neuseeland und über Japan zurück nach Russland.“ Wir verstehen uns sofort mit den beiden, tauschen E-Mail-Adressen aus, bevor sie das Schiff verlassen.
Die Zollbeamten sind schnell zufrieden. Sie wollen nicht einmal unsere Rückflugtickets sehen. Um nach Neuseeland einreisen zu dürfen, müssen wir nachweisen können, dass wir das Land wieder verlassen werden. Das können wir eigentlich nicht: Da sich die Route des Containerschiffs geändert hat, auf dem wir drei Monaten später nach Kolumbien fahren wollten, wissen wir nicht, wie und wann wir ausreisen werden. Dass wir Fake-Flüge buchen mussten, damit es weitergeht, ärgert mich. Auch wenn die Sitze leer bleiben werden: Die Tickets widersprechen der Idee unserer fluglosen Reise.
Nachdem die Formalitäten geklärt sind, führt uns der Steward, Zar, in unser Zimmer. Wir können kaum glauben, wie groß der Raum ist, in dem wir die kommenden fünf Tage verbringen dürfen. Neben dem Bett und einem Badezimmer haben wir ein Sofa, einen Schreibtisch und drei Fenster.
Unter Anleitung des Sicherheitsoffiziers Nuin müssen Stéphane, Alex und ich einen Bogen mit Fragen zur Sicherheit an Deck ausfüllen. Wie oft ertönt der Alarm, wenn es brennt? Wohin müssen wir gehen, wenn das Schiff evakuiert werden sollte? Nuin diktiert uns die Antworten.
Er ist, wie Zar, Myanmare. Insgesamt 23 Offiziere und Crewmitglieder fahren auf der Amber mit. 49 Tage braucht das Schiff für seine Runde von Ningbo über Hongkong, Taiwan und Brisbane nach Neuseeland, wo es an mehreren Häfen anlegt. Die Offiziere stammen vor allem aus Rumänien, die Crew aus Myanmar. Wie auf unserem letzten Frachtschiff, der CMA CGM Rossini, bekommen die europäischen Seemänner ein höheres Gehalt und mehr Urlaub als ihre südostasiatischen Kollegen. Ich wundere mich darüber, dass sie trotz dieser ungerechten Behandlung so gut zusammenarbeiten. Aber vielleicht ist das auch nur der äußere Eindruck.
Wir sind fertig mit den Fragebögen. Zar führt uns durchs Schiff, zeigt uns den Fitnessraum, die Küche, den Essbereich, den Wäscheraum, den Indoor-Swimmingpool und den Erholungsraum für Passagiere, wo ein riesiges Puzzle auf dem Tisch liegt. „Das hat eine ältere Frau aus Neuseeland gemacht“, sagt Zar. „Sie ist die komplette Runde mit uns gefahren.“
Zum Abendessen sehen wir ihn wieder. Zar weiß, dass wir kein Fleisch essen. Er serviert uns Pilze, Kartoffelbrei aus der Tüte und einen panierten Fisch, der auf einer Fettlache schwimmt. Ich nehme einen Biss, schaue Alex an: „Ich fürchte, das Essen kann nicht mit dem auf der Rossini mithalten.“ Wir schwelgen in Erinnerungen an unsere Überfahrt von Malaysia nach Australien. Jeden Abend gab es ein hervorragendes Drei-Gänge-Menü. „Und Käse!“, seufzt Alex. „Und Käse“, seufze ich.
Stéphane setzt sich zu uns an den Tisch. Auf seinem Smartphone zeigt er uns seinen Instagram-Kanal und ein Video über seine Reise, das im französischen Fernsehen gelaufen ist. Danach konzentriert er sich aufs Essen. „Und, wie ist das Zimmer? Alles okay?“, frage ich. „Ja“, sagt er kurz angebunden und isst weiter. Ich erkundige mich nach seiner Familie, nach seinem Leben in Frankreich, bekomme aber nur einsilbige Antworten. Auch Alex dringt nicht zu Stéphane durch. Unser Mitfahrer wirbt zwar gern für sein Fahrrad-Projekt, hat aber offenbar keine Lust, sich mit uns zu unterhalten. Dann eben nicht. Wir entschuldigen uns, gehen auf unser Zimmer.
Am Morgen darauf, zwischen 10 und 11 Uhr, legen wir ab. Der Hafen von Brisbane, die Kräne und die bunten Container, schrumpfen sekündlich, bis sie mit dem Horizont verwachsen. Wir fahren an einer Insel vorbei, sehen einen Wal ein paar hundert Meter weit weg. Nehmen Kurs auf Neuseeland.
Die Tage vergehen schnell. Wir verbringen viel Zeit damit zu lesen, Serien zu schauen. Internet gibt es zwar auf dem Schiff, ist aber sehr teuer. Deshalb nutzen wir es nicht. Während Alex zeichnet, besuche ich die Wachoffiziere auf der Brücke, die oben auf dem Schiff nach Gefahren Ausschau halten. Wir haben Wetterglück, die Wellen sind nie so ungemütlich, dass uns unwohl ist. Abends versinkt die Sonne als roter Ball im Meer.
Frühstück gibt es von 7 bis 8, Mittagessen von 12 bis 13, Abendessen von 18 bis 19 Uhr; wobei wir das Frühstück meist auslassen. Der Koch der Amber kann leider wirklich nicht mit dem der Rossini mithalten. Unser Lowlight ist eine Suppe aus heißem Wasser, in der Tiefkühlerbsen, -möhren und -maiskörner schwimmen. Auf dem Zimmer essen wir Chips und Schokolade.
Zweimal überspringen wir eine Stunde auf dem Meer. Neuseeland ist Deutschland zwölf Stunden voraus. Zar erzählt uns von Myanmar und von den Piratengebieten vor Westafrika, wo es manchmal so gefährlich ist, dass die Containerschiffe tagelang nicht in die Häfen fahren können. „Einmal konnten wir nicht genügend Lebensmittel an Bord holen“, sagt er. „Also gab es jeden Tag Nudeln.“ Nudeln! Ich hätte gern getauscht.
Zwei Tage vor unserer Ankunft in Auckland müssen wir zusammen mit der Crew an einer Sicherheitsübung teilnehmen. Der Alarm ertönt sechsmal kurz, einmal lang, dann spricht der Kapitän: unser Zeichen, das Schiff zu verlassen. Wir ziehen Schutzwesten und Helme an, gehen aus dem Zimmer. An der Musterstation, zwei Etagen tiefer, händigt Zar Schwimmwesten aus. Die Mannschaft versammelt sich bei den Rettungsbooten.
Der Wind zerrt an den Westen, macht mir eine Gänsehaut. Ich denke sehnsüchtig an meinen Pulli, den ich im Zimmer vergessen habe. Einer der Seemänner erklärt, was bei einem richtigen Alarm passieren würde. Dann weist er Alex und mich an, ins Rettungsboot zu klettern. Drinnen ist es eng, beim Einsteigen müssen wir den Kopf einziehen. Der Seemann zeigt uns, wie man das Boot steuert, wo Lebensmittel für den Notfall versteckt sind. „Die Kekse hier sind so nahrhaft, dass zehn für eine Woche reichen“, sagt er. Ich würde mich nicht wundern, wenn er gleich aussteigen und die Leinen lösen würde, an denen das Boot hängt – wir wissen ja nun, was zu tun ist. Der Gedanke ist absurd, trotzdem bin ich erleichtert, als wir aussteigen dürfen. Zurück ins Warme, zurück in unser Zimmer!
Am nächsten Morgen sehen wir Land: die Nordspitze Neuseelands. Bis wir Auckland erreichen, vergehen aber noch ungefähr 24 Stunden. Die Amber fährt durchschnittlich 16 Knoten, rund 30 Stundenkilometer.
Einen Tag später schauen Alex und ich auf der Plattform neben der Brücke dabei zu, wie wir uns der „Stadt der Segel“ nähern. Zwei winzige Schlepperboote ziehen unser Schiff an Segelbooten und Kayakfahrern vorbei in den Hafen. Die Amber, ein Riese auf dem Wasser, hat Vorfahrt in der Hafenenge Aucklands. Die Skyline fängt hinter den Containerkränen an, dominiert vom 328 Meter hohen Sky Tower. In meinem Bauch kitzelt es, ich lächle. Wir haben es geschafft. Ohne Flugzeug haben wir das Land erreicht, das am weitesten von Deutschland entfernt ist.