Am Bondi Beach könnte man meinen, es sei Sommer. Die Strandbesucher liegen in Bikinis und Badehosen auf bunten Handtüchern. Sie sonnen sich, hören Musik, reden. Der halbmondförmige Strand ist der wahrscheinlich beliebteste in Sydney, einer Metropole mit mehr als 100 Stränden.
Der goldene Sand sieht aus, als wäre eine Herde Kamele darüber galoppiert, aufgewühlt von unzähligen nackten Füßen. Sogar das Meer ist voller Menschen. Fast alle schwimmen an der Brechungslinie, da, wo sich die großen Wellen bilden. Surfer in dicken Neoprenanzügen. Ohne diese zweite Schutzhaut würden sie die winterlichen Ozean-Temperaturen wohl kaum so lange aushalten.
Auch der sechs Kilometer lange Spazierweg zum Coogee Beach ist gut besucht. Immer an der Küste entlang führt er über graubraune Klippen und dunkelblaues Meer, vorbei an Sydneys teuren Vororten und Schwimmbecken, über die bei starker Brandung Wellen spritzen.
Alex und ich haben uns einen Samstag für unseren Ausflug dorthin ausgesucht. Keine gute Entscheidung. Auf der gegenüberliegenden Seite der Klippe, auf der wir den Spaziergang starten, drängen sich die Menschen.
Wir versuchen, Abstand zu halten, lassen schnellere Spaziergänger überholen, bleiben oft stehen, um Fotos zu knipsen, aufs Meer zu schauen. Einmal springt ein Wal aus dem Wasser. Mit einem riesigen Platscher lässt er sich auf den Rücken fallen. Dort, wo sein weißer Bauch gerade war, schäumen nur noch weiße Schaumkronen.
Es ist unser vierter Tag in Sydney. Aus Canberra, der Hauptstadt Australiens, sind wir 450 Kilometer in die größte Stadt des Landes gefahren. Im Großraum Sydney leben mehr als 5,1 Millionen Menschen. Eigentlich trennen die zwei Städte nur 300 Kilometer. Aber auf dem Weg aus dem trockenen, braunen Landesinneren an die Küste fahren wir einige Umwege.
Der erste führt uns zu den Fitzroy Falls im Bundesstaat New South Wales, ungefähr 175 Kilometer nordöstlich von Canberra. Der Wasserfall stürzt über eine Felskante 81 Meter in die Tiefe. Durch das Kangoroo Valley fahren wir weiter zum Hyams Beach. Das Tal sieht aus wie eine Landschaft in Baden-Württemberg, umgeben von Bergen, mit vielen grünen Kuhweiden. Wären da nicht die Palmen und die Eukalyptusbäume.
Der Hyams Beach entpuppt sich als Poster-Strand, mit feinweißem Sand und türkisblauem Wasser. Wir haben perfektes Timing: Gerade, als wir ein Stück am Strand entlanggehen, taucht eine Schule Delfine auf. Zehn, zwölf Tiere schwimmen parallel zum Ufer.
Die Wolkenwand am Horizont wird immer dunkler. Es fängt an zu regnen, als wir ins Auto steigen. Eine Stunde später steigen wir am Kiama-Blowhole aus. Pünktlich zur Golden Hour und einem schönen Sonnenuntergang. Das Blowhole selbst ist an diesem Tag nur mäßig beeindruckend. Bei den richtigen Bedingungen soll das Meerwasser hier bis zu 25 Meter in die Höhe sprühen. Heute sind es eher drei.
Der Rest der Fahrt ist anstrengend. Je näher wir Sydney kommen, desto mehr Spuren bekommt der Highway, desto länger staut sich der Verkehr. Und desto größer wird der Hunger. Irgendwann bewegen wir uns nur noch im Schleichtempo voran. Laut App hätten wir längst ankommen sollen. Es ist dunkel, die Autolichter blenden. Alex navigiert, ich fahre, wir haben beide keine Lust mehr.
Der Weg nach Chiswick, wo wir eine Woche wohnen werden, zieht sich. Zu viele Kreuzungen, zu viele rote Ampeln. Um kurz vor 20 Uhr kommen wir endlich an. Immerhin finden wir schnell einen Parkplatz. Chiswick ist ein ruhiges Wohnviertel etwa neun Kilometer westlich der Innenstadt von Sydney, weit weg vom Trubel des Zentrums und der Autobahn.
Wir haben Glück, dass gerade ein Nachbar das Haus betritt. So kommen wir ins Gebäude, ohne im Internet nach dem Nachnamen unseres Gastgebers suchen zu müssen. Sein Vorname steht nicht auf dem Klingelschild.
Mathieu begrüßt uns an der Wohnungstür. Der Franzose ist groß, schmal, hat dunkelblonde Haare, blaue Augen. „Kommt herein“, sagt er auf Englisch, mit französischem Akzent, und zeigt uns unser Zimmer. Wir stellen die Rucksäcke ab, folgen ihm durch die Wohnung. Mathieus Frau ist drei Monate lang mit den beiden Töchtern bei ihren Eltern in Polen, solange vermietet er das zweite Schlafzimmer.
Der Mitte-30-Jährige selbst arbeitet als Koch und abends manchmal als Uber-Fahrer, die Mieten in Sydney sind teuer. Dafür gilt die Stadt als eine mit der höchsten Lebensqualität weltweit. Das sieht auch Mathieu so, der mit seiner Familie an der Sonne und nah am Strand wohnen wollte.
Das erfahren wir aber alles erst im Lauf der Tage. An diesem Abend, halbverhungert, interessieren wir uns mehr für den Asia-Lieferservice als für Mathieus Lebensgeschichte. Eine Dreiviertelstunde später essen wir Pad Thai und grünes Curry in unserem Zimmer. Kein Raum für Smalltalk. Essen.
Am Tag darauf schlafen wir beide bis halb zehn – eine ungewohnt späte Zeit für mich nach unseren Campingtagen. Im Kofferraum von Diggity wache ich normalerweise zwischen halb sieben und halb acht auf. Wir verbringen den Tag mit Arbeit, verlassen das Haus nur kurz, um Lebensmittel einzukaufen.
In unserem Viertel können wir uns noch nicht so recht vorstellen, dass wir tatsächlich in Sydney sind. Chiswick hat Kleinstadt-Flair. Was uns ganz recht ist. So lassen wir uns nicht so leicht von unseren Aufgaben ablenken.
Mit dem Bus fahren wir am folgenden Tag in die Innenstadt. Von der Haltestelle gehen wir direkt zum Opernhaus. Es fühlt sich surreal an, vor dem ikonischen Gebäude zu stehen, das wir schon so oft auf Fotos und im Fernsehen gesehen haben. Aus der Nähe betrachtet, sieht es älter aus als auf den Bildern. Die segelförmigen Dächer sind gräulich, nicht strahlend weiß, wie ich bisher dachte, und bestehen aus vielen kleinen Mosaikteilen.
Nur wenige hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite des Hafens, verbindet die 503 Meter lange Harbour Bridge das Zentrum mit den nördlichen Stadtteilen. Wegen ihrer markanten Form trägt die rund 135 Meter hohe Stahlbogenbrücke den Spitznamen „Coat hanger“, Kleiderbügel.
Durch den Botanischen Garten spazieren wir zur Kunstgalerie von NSW. Am Kriegsdenkmal Anzac Memorial vorbei gehen wir in die Innenstadt. Bevor wir mit dem Bus nach Hause fahren, kaufen wir deutsches Brot im Queen-Victoria-Gebäude, einem Einkaufszentrum im viktorianischen Stil.
Für unseren letzten Ausflug nehmen wir die Fähre nach Manly, 17 Kilometer gegenüber dem Zentrum. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde und bietet einen herrlichen Blick auf das Opernhaus.
Vom Strand neben der Anlegestelle wandern wir auf die Landzunge North Head, wo hohe, schroff abfallende Klippen den Eingang des Naturhafens Port Jackson bilden.
Hier sind weniger Menschen unterwegs als zwischen dem Bondi und dem Coogee Beach, hier fühlen wir uns wohler. Der Wind bläst durch unsere Haare und durch die niedrigen Büsche auf den Klippen, die kleine, weiße Blüten tragen. Auf der Klippe gegenüber strahlt die Sonne einen Leuchtturm an, rechts, am Horizont, klebt die Skyline Sydneys. Wir setzen uns auf eine Bank, saugen das Panorama ein.
Der Rückweg nach Chiswick zieht sich. Eine Stunde dauert der Rückweg zur Fähranlegestelle, mehr als 90 Minuten die Fahrt mit dem Bus und der Fähre. Müde kommen wir in Mathieus Wohnung an. Draußen ist es dunkel. Ich schalte den Flugmodus meines Handys aus und bekomme sofort eine Nachricht. Sheryl aus Melbourne hat geschrieben, auf deren Hund und Katze wir zwei Wochen lang aufgepasst haben. Kenji vermisse uns sehr, schreibt sie, „er war jeden Tag am Fenster und hat auf eure Rückkehr gewartet.“ „Awwww“, seufzt Alex, „meine Prinzessin!“