Schuldbewusst schaut Kenji hinter sich. Seine Augen glupschen fast noch mehr als sonst aus seinem kleinen Kopf, während Alex mit einem feuchten Lappen seinen Hundehintern abrubbelt. Kenji hält brav still. Er scheint genau zu wissen, dass jetzt nicht die Zeit für Spielchen ist.
Zwei Wochen lang haben wir auf den Japan Chin aufgepasst. Ausgerechnet am letzten Tag hat er sich beim Gassigehen eingekackt. Der Durchfall riecht stechend-süßlich. „Du kleiner Stinker“, sagt Alex und rubbelt kräftig weiter. Ich bin keine große Hilfe. Ich stehe zwei Meter entfernt und lache, bis mein Bauch wehtut. Über Kenji, der die Popo-Massage sogar ein bisschen zu genießen scheint, und Alex, der sehr lieb ist, sehr verständnisvoll. An seiner Stelle hätte ich sehr viel mehr geflucht.
An einem Donnerstag, nach einem viertägigen Roadtrip auf der Great Ocean Road, kommen wir in Melbourne an. Wir parken Diggity vor dem Haus unserer Housesitting-Gastgeberin, einem roten Ziegelbau im Stadtteil Ashburton, der bereits 1927 gebaut wurde, aber das erfahren wir erst später.
Als wir gegen 18 Uhr an Sheryls Haustür klopfen, ist niemand da. Wegen des Verkehrs haben wir länger gebraucht als erwartet, sind später angekommen als angekündigt. Nur Mae, die flauschige, dreifarbige Katze, streicht an den Backsteinen der Veranda entlang. Schüchtern hält sie Abstand, so ganz weiß sie noch nicht, was sie von uns halten soll. Ich gehe in die Hocke, strecke vorsichtig die Hand aus. Mae verschwindet im Garten.
Zwei Minuten später kommen Sheryl und Kenji von ihrem Spaziergang zurück. Sheryl ist eine kleine Frau, etwas rundlich, mit grauem, kinnlangem Pagenschnitt. „Schau‘ mal, wer da ist!“, sagt sie zu Kenji. Mit seinem langen, schwarz-weißen Haar, dem wallenden Schweif und Augen, die aus dem Kopf zu fallen scheinen, sieht er aus wie eine Mischung aus Mops und Schaupony. „Wartet ihr schon lange?“, fragt Sheryl. „Nein, nein, wir sind gerade erst angekommen“, versichern wir ihr.
Sheryl schließt die Tür auf, wir streifen die Schuhe am Eingang ab. Sie führt uns durch ihr Heim, zeigt uns jeden Raum: ihr Schlafzimmer, unser Schlafzimmer, die Küche, das Wohnzimmer, das Büro, das Bade- und das Fernsehzimmer, den Waschraum und das Gästeklo. „Nehmt aus der Küche, was ihr möchtet“, sagt sie und öffnet den Kühlschrank. Sie hat extra für uns eingekauft. Wir können unser Glück kaum fassen. Einen halben Monat dürfen wir in ihrem schönen Haus wohnen, während Sheryl ihre Mutter in Neuseeland besucht, wo sie herkommt. Alles, was wir dafür tun müssen, ist die Tiere zu füttern und zweimal täglich mit Kenji Gassi zu gehen.
Nachdem wir unser Auto in die Einfahrt gestellt und die Rucksäcke im Schlafzimmer verstaut haben, verwöhnt Sheryl uns mit einem selbstgekochten Abendessen. Es gibt eine Art Wrap-Auflauf mit Spinat und Crème Fraîche, zum Nachtisch Kuchen. Sheryls Nachbarin Jenn isst ein Stück mit, wie unsere Gastgeberin ist sie in Rente und verwitwet, lebt schon seit mehr als 20 Jahren in der Straße. Nach dem Essen ziehen wir uns zurück, lassen die zwei Freundinnen noch eine Weile reden.
Am Morgen darauf wache ich früh auf. Sheryl ist noch zuhause, als ich mit Kenji zur ersten Runde um den Block aufbrechen möchte. Sie zeigt mir, wo ich seine Leine einhaken kann – ich habe nicht gesehen, dass Kenji sein Halsband immer anhat. Peinlich berührt öffne ich die beiden Türen, die aus dem Waschraum führen, in dem neben der Waschmaschine auch Kenjis Körbchen steht.
Kenji geht vor mir ins Freie. Ich drehe mich um, um die hintere Tür abzuschließen. In dem Moment schnappt die vordere Tür, eine mit Fliegengitter, zu und klemmt das Hündchen ein. Kenji jault auf, ich zucke zusammen, stoße die Türe wieder auf. Kenji tut mir leid. „Hoffentlich hat Sheryl das nicht gehört!“, ist trotzdem mein erster Gedanke. Als Hundesitter mache ich gerade keinen guten Eindruck.
Das Gassigehen, immerhin, ist einfach und dauert nicht lange. Der Weg ist stets derselbe: Die Straße hinunter, um die Ecke, um den Block, bis wir von der anderen Seite wieder nach Hause kommen. Unterwegs verrichtet Kenji sein Geschäft, das ich mit einem roten Plastikbeutel einsammle und daheim in die Mülltonne hinter unserem Auto werfe.
Manchmal ist der Spaziergang noch kürzer. Wenn es nieselt oder er besonders faul ist, dreht Kenji nach getanen Dingen am Straßenende einfach um. Hin und wieder zwinge ich ihn dazu, die komplette Runde mit mir abzulaufen. Er ist der erste Hund, den ich kenne, der so gern zuhause ist, das Haus so ungern verlässt. Kenji ist definitiv ein Haushund.
Schon nach zwei, drei Tagen haben wir unsere Routine gefunden. Mehr oder weniger pünktlich um 6 Uhr miaut Mae, die auf dem Schreibtischstuhl im Büro schläft, und will nach draußen. Alex lässt sie in den Garten und legt sich wieder schlafen. Gegen Viertel nach acht gehe ich mit Kenji Gassi. Zuhause füttere ich ihn und die Katze und wechsle das Wasser in ihren Trinknäpfen.
Sobald er sein Futter verschlungen hat, kratzt Kenji an unserer Schlafzimmertür. Er kann es nicht erwarten, dass sein Lieblingsmensch aufwacht. Abends geht Alex mit ihm spazieren. Dazwischen arbeiten und lesen wir, kochen, telefonieren, spielen Switch, schauen Serien. Und zwar eine ganze Menge: Modern Family, Stranger Things, Fuller House, Sex Education, Dark und Black Mirror. Ein paar Mal überwinde ich mich zum Joggen, gemeinsam putzen wir das Haus und räumen auf.
Es tut uns beiden gut, eine Auszeit zu haben, so etwas wie einen normalen Alltag und ein Zuhause. In Melbourne können wir zur Ruhe kommen. Selbstverständlich fahren wir ab und zu auch in die Stadt. Der Bahnhof ist gleich um die Ecke. Im zwölf Kilometer entfernten Zentrum schauen wir uns die St.-Pauls-Kathedrale, die National Gallery, den Botanischen Garten, Chinatown, das Parlament, das Museum für zeitgenössische Kunst und das Kriegsdenkmal Shrine of Remembrance an. Im Queen-Victoria-Markt essen wir Gözleme und Falafel.
Das Wetter ist wie in Deutschland im April, an einem Tag regnet und hagelt es, später scheint die Sonne. Es ist ein milder australischer Winter, trotzdem müssen wir Sheryls Heizung den ganzen Tag, die Klimaanlage tagsüber zusätzlich laufen lassen, um nicht zu frieren. Gut isoliert sind nur die wenigsten australischen Häuser. Nachts schalten wir hin und wieder sogar die Heizdecken an.
Eines Abends erhält Alex eine Nachricht von einer Frau namens Jo King (kein Witz!). Sie arbeitet für den Victoria Racing Club, einen Veranstalter von Pferderennen. Der Club habe ein Standbild eines Kurzfilms von Alex für seinen Winterball verwendet, dafür soll er entlohnt werden. Was für ein Zufall, dass wir gerade jetzt in Melbourne sind! Die beiden treffen sich in der Innenstadt zum Frühstück.
Mit der Straßenbahn fährt Alex anschließend weiter in den Stadtteil St. Kilda. An einer Haltestelle nahe dem Strand haben wir uns zum Spazierengehen verabredet. Wir umarmen und küssen uns zur Begrüßung – es fühlt sich an, als hätten wir Tage getrennt voneinander verbracht. „Schön zu sehen, dass es noch echte Romantik gibt!“, ruft einer von Alex‘ Mitfahrern aus dem Fenster. Wir lachen.
An der Promenade und am Strand entlang schlendern wir zum Pier, hinter dem abends Pinguine herumwatscheln sollen. Wir riechen sie nur, sehen sie nicht. Dafür sind wir zu früh da. In einem veganen Restaurant essen wir zu Mittag und kaufen Kuchen in der Acland Street, wo sich eine Konditorei an die nächste reiht. Die Auslagen sind voller Cremeschnitten, Muffins, Zitronentörtchen, Ricotta-Cannoli. Qual der Wahl. Wir entscheiden uns für einen Fudge mit Haselnüssen, ein Maracuja-Tartlet und Käsekuchen. Daheim essen wir unter den gierigen Augen von Kenji, der uns am liebsten auf die Kuchenteller steigen würde.
Dass Kenji uns nicht in Ruhe lässt, wenn wir essen, mag ich nicht. Auch nicht, dass er die Katze jagt, sobald sie ins Wohnzimmer kommt. Während Alex Kenji vom ersten Tag ins Herz geschlossen hat, ihn liebevoll seine „Prinzessin“ nennt, haben der Japan Chin und ich ein gemischtes Verhältnis. Legt er sich neben meine Füße und reckt den Bauch nach oben, damit ich ihn kraule, hat er mich um den Finger gewickelt.
Rammelt er nach dem abendlichen Spaziergang dagegen seinen „Freund“ – ein undefinierbares, graues Stofftier – demonstrativ vor unseren Augen, würde ich ihn am liebsten in sein Körbchen verbannen. Stattdessen wechseln Alex und ich das Zimmer. In einem Hundeforum im Internet habe ich gelesen, dass sein Verhalten Machtgehabe ist. Indem er seinen „Freund“ begattet, will Kenji uns zeigen, dass er der Herr im Haus ist. Wir können ihn umerziehen, indem wir ihm keine Möglichkeit bieten, sich so zu benehmen. Angeblich. Meistens folgt Kenji uns. Den „Freund“ bringt er gleich mit.
Kenjis Verdauungsprobleme fangen schon ein paar Tage vor unserer Abreise aus Melbourne an. Vielleicht spürt er die anstehende Veränderung. Statt beim Gassigehen kackt Kenji immer öfter auf das Windeltuch neben der Waschmaschine. Sheryl hat ihn darauf abgerichtet, nachts auf die saugfähige Decke zu urinieren. Ich mache mir Sorgen, versuche, die Uhrzeit unserer Spaziergänge besser nach seinen Bedürfnissen auszurichten. Als er sein Geschäft wieder draußen verrichtet, bin ich euphorisch. Noch nie habe ich mich so über einen Hundehaufen gefreut!
Am Morgen von Sheryls Ankunft putzen wir das Haus, sammeln Blätter im Garten, leeren die Pool-Körbe. Zum Schwimmen war es die ganze Zeit zu kalt. Alles ist sauber, alles ist perfekt – bis Alex und Kenji vom Abendspaziergang nach Hause kommen. Der Durchfall-Duft wabert wie eine Wolke durch die Wohnung, die dreckigen Lappen stecken wir in die Waschmaschine. Zehn Minuten vor Sheryls Ankunft geht auch noch die Glühbirne im Waschzimmer kaputt.
Sie nimmt es gelassen. „Man sieht, dass es ihm gut gegangen ist“, sagt sie mit Blick auf Kenji, der trotz eher mäßig sauberem Hintern neben ihr auf dem Sofa sitzt. „Aber du riechst wirklich nicht gut, später muss ich dich baden.“
Wir plaudern noch eine Weile, erzählen abwechselnd von den vergangenen zwei Wochen. Unsere Rucksäcke sind schon im Auto. Als wir die Tür hinter uns schließen, schaut Kenji aus dem Fenster des Fernsehzimmers und guckt uns nach. Seine Glupschaugen wölben sich nach Alex, dem es fast das Herz zerbricht. „Meine Prinzessin!“, seufzt er. Nicht zum letzten Mal.