Die ersten beiden Kakerlaken entdecke ich in der Küche. Sie sind bernsteinbraun, circa eineinhalb Zentimeter lang und schnell. Sie huschen über die Herdplatten und bis ich reagiere, sind sie längst in einer Ritze neben der Abzugshaube verschwunden.
„Wir haben Kakerlaken“, verkünde ich im Wohnzimmer. „Neeeein.“ Petra klingt eher widerwillig als schockiert. Meine Schwester, Alex und ich sind von unserer zweiten Wohnung in Bangkok nicht sonderlich begeistert. Die Möbel sehen aus wie von der Sperrmüllsammlung, es riecht, als hätte seit Monaten niemand mehr gelüftet. Im Bad und im Wohnzimmer schimmelt es. Die Kakerlaken kommen unerwartet, aber nicht überraschend. Bis zum frühen Abend töten wir fünf Schaben.
Gegen 19 Uhr verlassen wir die Wohnung. Es ist unser letzter gemeinsamer Abend in Thailand. Keine 30 Stunden später wird meine Schwester zurück nach Deutschland fliegen. Zum Abschied gehen wir noch einmal miteinander essen und besuchen eine Rooftop-Bar. Das wollte Petra, die bereits 2009 und 2011 in Bangkok war, schon immer einmal machen.
Das vegane Restaurant hat Alex ausgesucht. Es liegt in einer kaum befahrenen Seitenstraße unseres Viertels über einer Sporthalle. Während wir Falafel, Salat und Mezze essen, können wir den Muay-Thai-Boxern beim Üben zuschauen. „Wollt ihr nicht mitmachen?“, ruft uns der Trainer zu. Wir winken lachend ab. Mein langes Kleid ist sicher nicht zum Thaiboxen geeignet. Außerdem haben wir viel zu viel gegessen.
Mit dem Skytrain fahren wir in die Innenstadt. Das Ausgehviertel Nana erinnert uns an Hamburgs Reeperbahn. Fußballübertragungen und laute Rockmusik plärren aus den offenen Kneipen, an den Straßenecken stehen Prostituierte, es riecht nach abgestandenem Bier und nach Urin. Die Rooftop-Bar, für die wir uns entschieden haben, liegt nur zehn Minuten von der Haltestelle entfernt. Da es noch recht früh ist, als wir ankommen, müssen wir vor dem Eingang nicht einmal anstehen.
Wir nehmen den Aufzug in den 33. Stock des Hochhauses. Schon die Fahrt ist schwindelerregend: Auf drei Seiten des Aufzugs werden ganzflächig Videos abgespielt. Oben beeindruckt uns die Aussicht auf das nächtliche Bangkok. Überall funkeln Lichter. Bis wir einen Tisch bekommen, dauert es allerdings. Wir bestellen Cocktails, setzen uns auf ein Sofa, unterhalten uns – zumindest solange, bis der DJ die Musik aufdreht. Die Lautsprecher hängen direkt über unseren Köpfen.
Nach einer Dreiviertelstunde wird endlich ein Tisch frei. Doch wir bleiben nicht mehr lange. Neben uns warten schon die nächsten Barbesucher auf eine Sitzgelegenheit und ein Selfie vor der Skyline. Rooftop-Bars, beschließen Alex, Petra und ich, sind überbewertet. Mit dem letzten Skytrain fahren wir um kurz vor Mitternacht nach Hause.
Im Bett können meine Schwester und ich erst einmal nicht einschlafen. Obwohl wir wissen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, haben wir Angst, dass nachts eine Kakerlake über unsere Füße krabbelt. Oder schlimmer noch, übers Gesicht. Alex verbringt die Nacht auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer und macht sich keine Sorgen.
Am Morgen darauf fühle ich mich, als hätte ich nicht nur einen, sondern fünf Cocktails getrunken. Da Alex und ich fast nie Alkohol trinken, bin ich ihn nicht gewohnt. Trotzdem machen wir uns nach dem Frühstück auf den Weg in die Stadt. Mit dem Skytrain und der Fähre fahren Alex, Petra und ich zum Wat Saket. Die goldene Stupa des „Tempels des Goldenen Berges“ sehen wir schon von Weitem: Sie bildet die Spitze eines 79 Meter hohen, künstlich aufgeschütteten Hügels.
Durch die verworrenen Gassen der Innenstadt spazieren wir anschließend zur Khao San Road. Die 400 Meter lange Backpacker-Straße wurde spätestens mit dem Drama „The Beach“ (2000), in dem Leonardo di Caprio einen jungen Rucksackreisenden spielte, weltberühmt. Tattoo-Shops reihen sich an Bars, an Hostels, an T-Shirt-Läden. Bunte Reklameschilder hängen über der Straße, darunter warten Tuk-Tuk-Fahrer auf Kundschaft. Nachts wird die Khao San Road zur Partymeile. Dann verkaufen Straßenhändler Kokoseiscreme mit Erdnüssen und Eimer voll Alkoholmischgetränken.
So lange bleiben wir aber nicht. Wir essen im himmlischen Mango Vegan & Vegetarian Restaurant um die Ecke zu Mittag und fahren mit dem Bus zum MBK. In dem riesigen, labyrinthartigen Einkaufszentrum macht sich Alex erneut auf die Suche nach einem Objektiv für seine Kamera. Petra und ich fahren derweil zu einem Supermarkt, wo wir Obst, Gemüse und Süßigkeiten kaufen.
Zurück in der Wohnung tauschen wir die Fotos der vergangenen drei Wochen aus, spielen noch drei Runden Taki, töten ein paar Kakerlaken. Nach dem Abendessen begleiten Alex und ich Petra zur Skytrain-Haltestelle Phaya Thai. Mit der Stadtbahn fährt sie weiter zum Flughafen.
Mir wird ganz schwer ums Herz, als die Rolltreppe meine Schwester immer weiter nach oben trägt, sie langsam aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich vermisse sie, kaum dass ich sie nicht mehr sehe. Es fühlt sich seltsam an, ohne Petra zurück in die Wohnung zu fahren. So, als hätten wir etwas sehr Wichtiges vergessen.
Nur noch zu zweit fahren wir am nächsten Tag mit dem Minibus nach Ayutthaya (Betonung auf der zweiten Silbe). Wir brauchen allein eine Stunde zum Busbahnhof, müssen dafür aber nicht lange warten, bis wir einsteigen können. Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichen wir die ehemalige Königsstadt rund 70 Kilometer nördlich von Bangkok.
Ayutthaya war im 18. Jahrhundert die wichtigste Metropole Südostasiens. Mehr als eine Million Menschen sollen in ihr gelebt haben. Bereits 1351 ernannte der Herrscher U Thong sie zur Hauptstadt seines Königreichs. Rund 400 Jahre später, im Jahr 1767, wurde Ayutthaya durch die birmanische Armee eingenommen und fast vollständig zerstört.
Heute zieht die 53.000-Einwohner-Stadt mit ihren schönen Tempel- und Palastruinen jährlich gut zwei Millionen Besucher an, allen voran Tagesbesucher aus Bangkok. Der archäologische Geschichtspark ist eine der Hauptattraktionen Thailands. Das von Baumwurzeln umschlungene Buddha-Gesicht des Wat Mahathat („Tempel der großen und heiligen Reliquie“) kennen auch viele, die selbst noch nie in Thailand waren. Es ziert unzählige Postkarten und Instagram-Kanäle.
Nach einer kurzen Pause im Schatten leihen Alex und ich uns Fahrräder aus, um das 289 Hektar große Gelände zu erkunden. Der Geschichtspark Ayutthaya ist so groß wie der Park Sanssouci in Potsdam. Die freundliche Besitzerin des Fahrradverleihs gibt uns eine Karte mit und kreuzt an, welche Ausgrabungsstätten wir nicht verpassen sollten.
Der Geschichtspark ist anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ich hatte eine von grünen Schlingpflanzen und riesigen Würgefeigen überwucherte Tempellandschaft in der Natur erwartet, wie ich sie 2007 in Guatemala, in der antiken Maya-Stadt Tikal, gesehen hatte. Der archäologische Park Ayutthaya dagegen ist an die gleichnamige Neustadt angeschlossen. Die Ruinen sind gut restauriert, die Wege ausgeschildert und sauber. Alles wirkt sehr aufgeräumt und ordentlich.
Alex und ich besuchen als Erstes den Wat Ratchaburana, direkt neben dem bekannten Wat Mahathat. Der „Tempel der Königlichen Erfüllung“ soll 1424 als eine Art Grabmal für die beiden älteren Brüder des Königs Borommaracha II. errichtet worden sein. Die zwei hatten sich in einem Elefantenduell um den Thron gegenseitig getötet, weshalb am Ende der jüngste der drei Brüder zum König gekrönt wurde.
Gegen 17.30 Uhr fahren wir zurück nach Bangkok. In einem Food-Court nahe unserer Haltestelle essen wir frittierten Reis mit Gemüse und Tofu mit Brokkoli zu Abend. Es ist unser letzter Abend in Thailands Hauptstadt. In unserer Wohnung töten wir fünf Kakerlaken.