13 Stunden anstehen

„Steht ihr auf der Liste? Falls nicht, könnt ihr jetzt gehen. Ihr kommt heute nicht mehr an die Reihe.“ Alex und ich schauen uns fragend an. Der mongolische Polizist scheint es ernst zu meinen. Aber sollen wir jetzt, um 11.30 Uhr, wirklich gehen? Aufgeben, nach sechs Stunden Warten? Die chinesische Botschaft in Ulan Bator hat erst wieder in zwei Tagen geöffnet, und wer garantiert, dass wir dann in das Gebäude eingelassen werden, unseren Visumantrag stellen können?

Fünf Tage in der Hauptstadt Ulan Bator verbringen, dann den Rest der Mongolei erkunden – mit dem Visum für China in der Tasche. So hatten wir uns das vorgestellt. Doch daraus wird erst einmal nichts. Müde, frustriert und etwas niedergeschlagen machen wir uns auf den Weg nach Hause. Wir sind umsonst um 4.30 Uhr aufgestanden. Ob das mit dem Visum überhaupt noch klappt, ist auch nicht sicher.

Wie es in dem Fall weitergehen soll, wissen wir nicht. Ins Flugzeug steigen, das wollen wir nicht. Doch die Mongolei grenzt nur an Russland und an China. Zurück nach Russland können wir nicht: Auch für das größte Land der Welt benötigt man ein Visum, das vor der Einreise im Heimatland beantragt werden muss. Wir brauchen diese Visa für China. Und ein paar Stunden Schlaf. Zurück in der Unterkunft legen wir uns erst einmal hin.

Drei Tage zuvor kommen wir in Ulan Bator an. Um kurz vor sieben Uhr steigen wir aus dem Zug, in den wir in Slyudyanka am Baikalsee eingestiegen sind, in dem wir einen Tag und eine Nacht verbracht haben. Am Gleis werden wir schon erwartet. Taxifahrer und Hotelbetreiber sind früh aufgestanden wegen der anreisenden Touristen. „Taxi? Taxi?“, rufen viele. Andere versuchen, uns eine Broschüre mit Tour-Angeboten und Hotelzimmern in die Hand zu drücken. Überfordert von dem unerwarteten Ansturm gehen wir erst einmal in die Bahnhofshalle und heben Geld ab:  500.000 Tugrik, rund 170 Euro. Mit den vielen Scheinen im Portemonnaie kommen wir uns vor wie Millionäre.

 

In Ulan Bator leben rund 1.500.000 Menschen: knapp die Hälfte der mongolischen Gesamtbevölkerung.
Mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von -2 Grad gilt UB als die kälteste Hauptstadt der Welt. Die schönste ist sie nicht.

Mit dem Bus wollen wir in die Innenstadt fahren, den restlichen Weg zu unserer Unterkunft zu Fuß gehen. An der Bushaltestelle vor dem Bahnhof sind wir die einzigen Ausländer. Wir genießen die Ruhe. Nur der Bus kommt nicht. Nach einer halben Stunde geben wir auf, steigen doch ins Taxi. Die Wohnung, in der wir die kommenden Tage verbringen werden, ist mehr als vier Kilometer entfernt.

Der junge Mann am Steuer hat es eilig. Er hält sich weder an die Geschwindigkeitsbegrenzung, noch vor roten Ampeln. Er überholt mal rechts, mal links, beschleunigt, obwohl die Fahrzeuge hundert Meter weiter stillstehen. Dabei hupt er immer wieder. Immerhin: nicht einmal zehn Minuten später stehen wir vor der Tür unseres neuen Heims.

Dort verbringen wir zwei Tage damit, Unterlagen herauszusuchen, auszufüllen und zu kopieren, uns eine Reiseroute zu überlegen, der wir nie folgen und Unterkünfte zu reservieren, in denen wir nie übernachten werden. Die chinesischen Behörden verlangen viele Nachweise von den Besuchern ihres Landes. Auch einen Flug nach China reservieren wir notgedrungen. Die Angestellte des kleinen Reisebüros, das wir zu diesem Zweck aufsuchen, weiß schon Bescheid. Da es an unserem Fake-Einreisedatum keine andere Verbindung mehr gibt, reserviert sie uns zwei Plätze in der ersten Klasse: „Ihr werdet ja sowieso nicht fliegen, oder?“

 

Zwei Tage verbringen wir mit der Organisation aller Unterlagen für unsere China-Visa.
Das vierseitige Antragsformular muss fehlerfrei ausgefüllt sein, die Unterschrift mit der auf dem Reisepass übereinstimmen.

Als wir an einem Mittwochmorgen um kurz nach fünf Uhr an der chinesischen Botschaft ankommen, warten dort bereits gut zwei Dutzend Menschen. Unter ein paar Bäumen gegenüber des Eingangs stehen, hocken, sitzen sie. Einige sehen so aus, als hätten sie hier die Nacht verbracht. Es ist kalt und noch dunkel, aber immerhin sind um diese Uhrzeit kaum Autofahrer unterwegs auf den Straßen Ulan Bators, wo Hupen normalerweise die Hintergrundmusik des Stadtgeschehens bildet.

Neben uns sind zu dieser frühen Stunde nur zwei weitere Touristen da. Ramona und Jan aus Karlsruhe sind Mitte Juni aus Süddeutschland aufgebrochen, über das Baltikum nach Sankt Petersburg getrampt und von Moskau mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mongolei gefahren. Als Nächstes wollen sie, wie wir, nach China reisen. Wenn es mit dem Visum klappt. Auch die beiden haben die vergangenen zwei Tage nur damit verbracht, sich um die Unterlagen für den Visumantrag zu kümmern und Flugtickets zu reservieren. „Ein Riesenaufwand“, sagt Jan, 30, braune Haare, dunkle Augen, Brille, Truckerkappe. „Dabei fliegen wir nicht mal nach China. Wir fahren mit dem Zug bis an die Grenze, mit dem Taxi rüber und dann mit dem Bus nach Peking.“

Neben dem Eingang setzen wir uns auf den Boden. Wir wissen, dass die schmale Eisentür in der blassgelb gestrichenen Mauer erst in viereinhalb Stunden geöffnet werden wird. Visaanträge können nur montags, mittwochs und freitags von 9.30 bis 12 Uhr gestellt werden. Das haben wir im Internet gelesen. Und dass man früh da sein muss, um überhaupt eine Chance zu haben, eingelassen zu werden. Jetzt im Sommer, wenn viele mongolische Studenten nach China reisen wollen, soll der Andrang besonders groß sein.

Tatsächlich kommen immer mehr Menschen vor der Botschaft an: vor allem Mongolen, aber auch Reisende, mit denen wir Kekse und Geschichten tauschen. Mit Nicolas aus Frankreich, der von Paris nach Peking trampen möchte und nur für die Wartezeit vor der chinesischen Botschaft einen Klappstuhl gekauft hat. Mit Harry aus Südkorea, der in China eine Firma gründen will. Und mit Kuba aus Polen, der seine Weltreise als Martial-Arts-Trainer und Fotomodell finanziert.

 

13 Stunden verbringen wir mit Jan und Ramona vor der chinesischen Botschaft.

Gegen sieben Uhr kommt Bewegung in die Menge. Die Einheimischen stellen sich, angeleitet von den Polizisten, rechts vom Eingang auf. Wir bleiben auf der linken Seite. Auf mehreren Blogs haben wir gelesen, dass die Ausländer eine eigene Schlange bilden. Doch diese Regel scheint bereits nicht mehr zu gelten. Die Polizisten verteilen grüne Zettel an die Wartenden – aber nur an die auf der rechten Seite. Was hat das zu bedeuten?

Es ist Harry, der Koreaner, der es herausfindet. Er lebt in Ulan Bator, spricht Mongolisch. „Sie lassen nur 80 Menschen am Tag rein“, erklärt er uns nach einem kurzen Gespräch mit einem Polizisten. „Und die, die ganz vorne sind, stehen wohl auf irgendeiner Liste.“ Keine guten Nachrichten. Trotzdem wollen wir nicht nach Hause gehen. Vielleicht, hoffen wir, gibt es noch eine Chance. Auch Ramona, Jan, Harry, Nicolas und Kuba bleiben.

Pünktlich um halb zehn Uhr tritt einer der Polizisten an den Eingang der Botschaft. Er hämmert so lange an die Eisentür, bis jemand sie von innen öffnet. Zehn Personen werden eingelassen, dann schließt die Tür sich wieder. Nach etwa 15 Minuten wiederholt sich der Vorgang. Wir warten weiter, doch mit jeder Minute, die vergeht, glauben wir weniger daran, ins Innere zu gelangen. Um 11.30 Uhr nimmt der mongolische Polizist uns die letzte Hoffnung. „Ich würde das echt gerne verstehen“, sagt Ramona, 28. „Da muss doch irgendein System dahinterstecken! Wieso haben die anderen diese Zettel bekommen und wir nicht? Und was hat es mit der Liste auf sich?“

Wieder klärt Harry auf. Er bedeutet Ramona und mir, ihm zu einem roten Pkw zu folgen. Um das offene Auto drängen sich diejenigen, die es an diesem Morgen nicht in die Botschaft geschafft haben. Auf dem Rücksitz sitzt eine Mongolin: die Frau mit der ominösen Liste. Wir schreiben unsere Namen auf das Papier. „Die Liste ist für Montag, aber wir sollen am Freitag um sechs Uhr wiederkommen, um unsere Namen zu bestätigen“, sagt Harry.

Zwei Tage später treffen wir uns wieder. Eine halbe Stunde konnten wir an diesem Morgen länger schlafen, doch wirklich ausgeruht fühlen wir uns nicht. Der Rücken zwickt noch vom langen Schlangestehen und unsere Lust auf einen weiteren langen Vormittag vor der chinesischen Botschaft, wo keine Toilette in der Nähe ist, hält sich in Grenzen.

Rechts vom Eingang stehen die Menschen bereits Schlange, als wir um 5.30 Uhr ankommen. Auch Ramona, Jan, Nicolas, Harry und Kuba sind schon da. Wir begrüßen sie wie alte Bekannte. Der Kampf ums Visum schweißt zusammen. Dieses Mal stellen auch wir uns auf die rechte Seite. Wir haben Glück: Nicht alle Personen, die sich auf der Liste eingetragen haben, sind so früh gekommen. Eine Frau geht die Warteschlange entlang, ruft Namen auf, streicht die, die sich nicht melden. 20 Minuten später drückt uns ein Polizist Zettel in die Hand, an diesem Morgen sind sie pink. Nummer 68 und 69.

 

Im Sommer, wenn viele mongolische Studenten nach China reisen wollen, ist der Andrang besonders groß.
Ready to rumble: Dokumente, Reisepass und ein pinker Zettel.

Um 9.30 Uhr öffnet sich die Tür zur Botschaft. Langsam kommen wir ihr näher. Solange, bis der muskelbepackte Kuba wutentbrannt herausstürmt und seine Papiere vor uns auf den Boden wirft. „Ich bleibe für immer in der Mongolei! Ich hab‘ das Visum nicht bekommen!“, schreit er. „Was, warum nicht?“, will Jan wissen. „Eine Hotelbuchung war auf Polnisch. So eine Kacke!“ Kuba flucht noch immer, als zwei mongolische Polizisten ihn am Arm greifen, zu einem Polizeiauto führen und mit ihm davonfahren. Die Tür zur Botschaft bleibt eine Stunde lang geschlossen. Harry geht zu einem der Polizisten. Nach kurzer Zeit weiß er: „Kuba hat einen Schrank kaputtgeschlagen.“ Wohin er gebracht wurde, wie es ihm geht, erfahren wir leider nicht. Keiner von uns hat seine Handynummer.

 

Kubakrise
Bleistift-Kritzelei an der Botschaftsmauer. Das Warten auf das Visum kann zermürben.

Schweigend warten wir weiter. Erst als die Polizisten ohne Kuba zurückkommen, öffnet sich die Türe wieder, kommt wieder Bewegung in die Schlange. Um 12.15 Uhr, eine Viertelstunde nach der offiziellen Öffnungszeit, betreten wir endlich das Botschaftsinnere. Ein zweites Mal an diesem Tag haben wir Glück: Trotz des Zwischenfalls kommen alle 80 Wartenden mit einem pinken Zettel an die Reihe.

In einem Raum, der einer kleinen Bahnhofshalle ähnelt, stehen wir eine weitere Stunde vor dem Schalter in der Schlange. Dann geht alles fix: Dokumente vorweisen, Fragen beantworten, Brille abnehmen für den Vergleich mit dem Foto auf dem Reisepass. Unsere Reiseroute müssen wir noch handschriftlich in den Antrag übertragen, danach überreicht uns die chinesische Beamten die Überweisungsscheine, mit denen wir die Kosten für die Visa begleichen sollen. 180 US-Dollar für die zweimalige Einreise und die Express-Ausstellung. Um 16 Uhr können wir die Pässe abholen. Puh! Wir sind erleichtert. Längst nicht alle, die es in die Botschaft geschafft haben, haben auch einen Überweisungsschein bekommen.

Als wir nachmittags zur Botschaft kommen, treffen wir Nicolas und Harry in der Wartehalle. Auch die beiden wollen ihre Reisepässe so schnell wie möglich wiederhaben. Harry hat es eilig, er möchte schon in wenigen Tagen nach Peking, zu seiner Frau, reisen. Nicolas bangt noch um sein Visum: Weil sein Reisepass vom Regen zerfleddert ist, die Seiten sich wellen, könne es sein, dass er es nicht bekommt, erzählt er.

Doch er bekommt es. Und wir auch. Euphorisch fallen wir uns in die Arme, klatschen ein. Zwei Tage Organisation, 13 Stunden anstehen, eine Stunde Glücksgefühle – wegen eines Stücks Papier. China, wir kommen.

 

Gewinner-Selfie mit Harry (re.) …
… und mit Nicolas (re.). Sogar der Polizist freut sich mit uns.

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