Für seine Größe ist das Hündchen überraschend laut. Das schokoladenbraune Wesen reicht uns nur knapp über die Knöchel, aber es bellt in einer Lautstärke, als wollten wir es gleich entführen. Alex und ich stehen mit unseren Rucksäcken vor dem metallenen Eingangstor unserer Unterkunft auf Phuket.
Das thailändische Eiland ist als All-Inclusive-Destination und Partyinsel bekannt, es ist quasi das Mallorca der Andamanensee. Dass Alex und ich hier einmal eine Woche verbringen würden, hätte ich nicht gedacht. Ich hätte gerne eine entlegenere Insel erkundet, auf der sich die Liegen noch nicht aneinanderreihen; eine, die ohne 30-Minuten-Massagen und mobile Bierverkäufer auskommt.
Aber im Gegensatz zu entlegeneren Inseln ist Phuket gut zu erreichen und hat bezahlbare Zimmer. Zwei ausreichend gute Gründe für Langzeitreisende, die noch eine Weile unterwegs sein möchten. Außerdem liegt die Insel auf halber Strecke zwischen Saphli und Hat Yai, unserem letzten Stopp, bevor wir die Grenze zu Malaysia überqueren. Wir sind also auf Phuket.
Es dauert ein paar Minuten, bis Petr und Emilia die Treppe herunterkommen und das Metalltor öffnen. Unsere Gastgeber kommen ursprünglich aus Polen, leben mittlerweile aber schon seit drei Jahren in Thailand. Die beiden sind in der Kreativbranche tätig, sie drehen Imagefilme für Hotels, Restaurants und Diskotheken. „Jetzt ist mal wieder gut, Keyla“, weist Emilia den Hund zurecht. „Junge oder Mädchen?“, frage ich und halte dem kleinen Wesen meine Hand hin. Es beschnüffelt sie zaghaft. „Ein Mädchen. Keyla – nicht Killer“, sagt Emilia. Keyla springt an meinem Bein hoch.
Emilia und Petr steigen die Treppen vor uns nach oben in die Wohnung, zeigen uns die getigerte Katze Berta und unser Zimmer. Wir unterhalten uns noch eine Weile, bevor die zwei sich wieder an die Computer setzen. Ihre Rechner laufen während unseres Aufenthalts ohne Unterbrechung.
Im Raum neben uns wohnen Alex und Aliyah aus Russland für drei Wochen. Sie lernen wir aber erst später kennen. An diesem Abend duschen wir nur noch und legen uns früh schlafen. Wir sind beide müde. Neun Stunden hat die Busfahrt von Saphli gedauert. Mit dem Taxi sind wir von Phuket Town, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, noch einmal 45 Minuten nach Kamala Beach gefahren. Die größte Insel Thailands – Phuket ist etwa 50 Kilometer lang und 22 Kilometer breit – ist extrem bergig. Entsprechend lange dauert es, von einem Ort zum anderen zu kommen.
Am nächsten Morgen werde ich früh geweckt. Die Hähne der Nachbarn fangen gegen sechs Uhr an zu krähen. Ich hole meine Ohrstöpsel aus der Tasche. Sie werde ich hier noch öfter brauchen. Nach dem Frühstück spazieren Alex und ich zum Meer. Gut drei Kilometer sind es von unserer Wohnung.
Der Strand hat wunderbar feinen, weißen Sand und ist bedeckt von Liegestühlen und Touristen. Wir hören Russisch, Deutsch und Spanisch, sehen rotgebrannte und braungegerbte Rücken. Aus dem türkisblauen Wasser ragen dutzende Köpfe, auf den Wellen schwappen Jetskis.
Ich komme mir ein bisschen fehl am Platz vor. Den letzten Strandurlaub habe ich 2002 gemacht, da war ich 15. Ich bin nicht die Person für Sonnenbäder. Stundenlang reglos auf dem Sand zu liegen macht mich nervös, nicht glücklich, aber ewig wollen Alex und ich ja sowieso nicht bleiben.
Wir legen unsere Handtücher in den Schatten einer Palme, holen unsere Bücher aus dem Rucksack und gehen abwechselnd schwimmen. Und da verstehe ich die Strandurlauber ein bisschen. Von dem Moment an, in dem ich ins badewannenwarme Meer steige und mich vom Wasser tragen lasse, den Blick in den wolkenlosen Himmel gerichtet, finde ich das alles gar nicht mehr so schlecht.
Was auch daran liegt, dass ich ein riesiger Angsthase bin. Im Meer habe ich unverhältnismäßig großen Respekt vor den Wellen und Panik vor Unterwasserströmungen. Ich schwimme fast nie weiter hinaus, als ich stehen kann und bin ungern allein im Wasser – ohne Menschen, die mich im Notfall vor dem Ertrinken retten könnten oder vor einem großen Fisch. Das jedenfalls wird hier nicht so schnell passieren. Punkt für Phuket, denke ich und starre weiter in den Himmel.
Wie es hier am zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 ausgesehen haben mag, als eine mehr als sechs Meter hohe Tsunami-Welle den Strand und die Straßen dahinter überrollte, mag ich mir nicht vorstellen. Kamala Beach war einer der Orte in Thailand, die am meisten von der Flut betroffen waren. Hunderte Einwohner und Urlauber ertranken. Häuser, Hotels und Holzhütten wurden weggespült.
Heute erinnert nur noch ein Denkmal am Strand an die Opfer der Naturkatastrophe. Warnschilder weisen darauf hin, dass man sich in einer Tsunami-Gefahrenzone befindet, man sich im Falle eines Erdbebens ins Landesinnere oder auf höher gelegenes Terrain begeben soll. Die Restaurants und Hotels wurden wieder aufgebaut. Die Massageliegen stehen wieder.
Mit dem Songtheaw fahren wir einige Tage später nach Phuket Town. Die Fahrt in dem ruckelnden, halboffenen Lastwagen kostet nur 50 Baht (1,40 Euro) pro Person, obwohl wir mehr als eine Stunde unterwegs sind. Zu Fuß gehen Alex und ich zum Khao-Rang-Hügel, der eine schöne Aussicht auf die 75.000-Einwohner-Stadt bietet. Eine Weile schauen wir den frechen Affen zu, die eine Wasserflasche von einem Touristen ergattert haben und daraus trinken, als hätten sie noch zehn weitere im Schrank.
Wir spazieren zurück ins Zentrum, durch die Thalang Road und die Soi Rommanee, die angeblich schönsten Straßen der Stadt, denen man das sino-portugiesische Erbe ansieht. Im 16. Jahrhundert siedelten sich viele Chinesen und Portugiesen in Phuket Town an, um dort Handel zu treiben und Zinn abzubauen. Sie ließen hübsche, bunte Steinhäuser zurück.
Nach einem Kaffee, einem Apfel-Blaubeer-Crumble und Alex‘ Monats-Burger machen wir uns auf den Rückweg. Das Songtheaw steht schon bereit, es füllt sich schnell mit Schulkindern, die alle paar Meter auf die Klingel drücken. Der Fahrer hält überall, wo jemand aussteigen möchte. Es dauert, bis wir zu Hause ankommen.
Der Strandort Kamala Beach, im Osten der Insel, ist bei Rentnern und Familien beliebt. Zum Glück nicht bei den Partygängern. Die sammeln sich sechs Kilometer südlich in Patong. Dorthin fahren Alex und ich einen Tag eher mit dem Bus. Wir wollen uns Spider-Man: Into the Spider-Verse ansehen.
Wir steigen am Ortseingang aus, um Patong Beach kennenzulernen. Den Ballermann von Phuket. Der Strand ist zwar genauso schön wie in Kamala, aber noch voller und näher an der Straße. Die Bangla Road, Patongs Schinkenstraße, besteht aus Dönerbuden, Bars und Diskotheken. Eine surreale Parallelwelt, mit der wir in Thailand bisher nur entfernt in Kontakt gekommen sind. Das Ambiente ähnelt dem von Bangkoks Ausgehviertel Nana.
In dem Einkaufszentrum, in dem sich das Kino befindet, kann man von Einhorn-Pantoffeln bis zum Gourmet-Kaffee alles kaufen. Wir gehen direkt zum Kino, holen Eintrittskarten und verlassen das Gebäude wieder. In dem mit Stoffsegeln überspannten Vorhof essen wir Falafel und warten darauf, dass der Film anfängt.
Als wir das Kino verlassen, ist es dunkel. Die Bangla Road hat sich gefüllt. „Ping Pong Show?“, fragen mich alle paar Schritte Frauen um die 50, die nicht so recht zu meinem Bild von Werbetreibenden für obszöne Ballspiele passen. Die Szenerie verstört mich; ich kann nicht nachvollziehen, wie man sich an einem solchen Ort wohlfühlen kann.
Vor der Polizeistation gegenüber des Eingangs zur Bangla Road warten Alex und ich auf den Bus nach Kamala Beach. Doch die günstigen Songtheaws fahren so spät nicht mehr. Nur der Touristenbus, dessen Fahrer 170 Baht (rund 4,70 Euro) pro Person verlangt. Phuket ist viel teurer als alle thailändischen Orte, an denen wir bisher waren. Und europäische Preise sind wir längst nicht mehr gewohnt.
Ich sehe es nicht ein, so viel Geld für eine 15-minütige Fahrt zu zahlen und schlage vor zu trampen. Einer der vielen Pick-ups, die vorbeifahren, wird uns schon mitnehmen. Alex willigt ein. Wir gehen los und gehen immer weiter. Aus Patong hinaus, nur noch ein paar Restaurants und Hotels sind am Straßenrand, der Straße nach über die dschungelbewachsenen Berge nach Kamala. Die Pick-ups fahren viel zu schnell vorbei, an der Hauptstraße können oder wollen sie nicht halten.
Wir gehen den kompletten Weg zur Bushaltestelle, an der wir unsere Fahrräder abgeschlossen haben. Nach eineinhalb Stunden freuen wir uns wie noch nie über die Leihräder. Wie leicht es sich anfühlt, über den Asphalt zu radeln! Kaum zehn Minuten später erreichen wir unsere Unterkunft.
Hinter dem metallenen Eingangstor wartet Keyla schon auf uns. Sie kennt uns jetzt, kläfft nicht mehr, als wir das Tor aufschließen. Sie wedelt nur ganz schnell mit ihrem winzigen, schokoladenbraunen Schwänzchen und springt an unseren Beinen hoch. Keyla – nicht Killer.