Der Schweiß rinnt von meinen Schläfen in den Nacken. Meine Arme glänzen, das T-Shirt klebt am Rücken. Es sind circa 30 Grad, als Alex und ich die Treppen zum Moon Hill hinaufsteigen. Jeder Schritt kostet Kraft. Immerhin führen die Stufen durch den Wald. Im Schatten der hohen Bambussträucher ist die Hitze gerade noch erträglich.
Eine Dreiviertelstunde brauchen wir zum Gipfel des Mondhügels, einer 380 Meter hohen Erhebung, über die sich ein etwa 50 Meter hoher Felsbogen spannt. Oben angekommen setzen wir uns auf eine Bank und trinken Wasser. Erst danach fotografieren die Aussicht. Die Landschaft um Yangshuo ist unwirklich schön. Eingebettet zwischen kegelförmigen Karstbergen liegt die 40.000-Einwohner Stadt im Autonomen Gebiet Guangxi im Süden Chinas. Eine Szenerie wie aus dem Film „Avatar“.
Mit dem Zug fahren wir von der Grenzstadt Shenzhen bei Hongkong nach Yangshuo. Knapp sieben Stunden sind wir unterwegs von Unterkunft zu Unterkunft. Wir nehmen den schnellen G-Zug nach Guangzhou, von da an geht es in der Regionalbahn weiter. Auf dem Boden im Gang sitzend passieren wir Bambuswälder, Reisfelder, freilaufende Rinder und Bananenpalmen. Für die Fahrt haben wir nur Stehplätze bekommen.
Um 15.30 Uhr erreichen wir den Eilbahnhof Yangshuo. Unsere Regionalbahn ist, wie fast alle Züge in China, auf die Minute pünktlich. Am Bahnhof begegnen wir Malte, einem Mathematik- und Geografielehrer aus Münster, der im selben Guesthouse wie wir übernachtet. Zusammen fahren wir mit dem Bus ins rund 35 Kilometer entfernte Stadtzentrum.
Während wir am Busbahnhof Yangshuos auf einen Stadtbus warten, der uns in die Nähe unserer Unterkunft bringt, reden wir über das Reisen und das Leben in Deutschland. Lehrer sei eigentlich nicht sein Traumberuf, sagt Malte. „Aber jetzt habe ich das Referendariat schon hinter mir und die Bezahlung ist okay.“ Der 34-Jährige unterrichtet an einer Gesamtschule, momentan nimmt er ein Sabbatjahr.
Im Bus fällt mein Blick auf einen riesigen LED-Bildschirm, auf dem immer wieder drei schwarz-weiße Passbilder erscheinen. Daneben die Namen und weitere Informationen zu den Personen. Die Leinwand hängt mitten in der Stadt, an einem Gebäude neben einem Kreisverkehr. Was diese Leute wohl verbrochen haben?, fragen Alex und ich uns im Vorbeifahren.
In unserer Unterkunft erfahren wir, dass es sich bei den Abgebildeten um Fußgänger handelt, die bei Rot über die Straße gegangen sind. Der LED-Bildschirm ist ein virtueller Pranger für Menschen, die es zu eilig hatten. Wir sind überrascht. China ist dem digitalen Überwachungsstaat, den George Orwell in seinem Roman „1984“ erdacht hat, ähnlicher, als wir es angenommen hatten.
In unserem Guesthouse fühlen wir uns sofort wohl. Unser Zimmer hat ein bequemes Bett und einen großen Balkon hinter einer breiten Glasfront. Wir schauen auf dunkelgrüne Karstkegel und viereckige Lotosfelder. Im Erdgeschoss ist eine Küche, draußen sogar ein Schwimmbecken. Das kühle Wasser tut gut nach der anstrengenden Anreise.
Während wir uns mit den Unterarmen am Beckenrand abstützen, wird uns wieder einmal bewusst, wie gut wir es haben. Wie privilegiert wir sind. Wir haben keine Verpflichtungen, können unsere Tage so gestalten, wie wir wollen. Wir haben genügend Geld, um uns Essen und Trinken zu kaufen, können uns aussuchen, wo wir wie lange übernachten. Unsere Berufe machen uns Spaß und sie ermöglichen uns diese Reise. Wir können fast überall arbeiten, dazu brauchen wir nur eine gute Internetverbindung. Es ist keine Arbeit, die eintönig ist oder uns körperlich anstrengt.
Ein paar Meter neben dem Swimmingpool jätet ein Bauer mit einem breiten Strohhut Unkraut auf einem Feld in der Abendsonne. Er sieht nicht unglücklich aus, trotzdem frage ich mich, ob er von seinem Ertrag gut leben kann. Ob sich die Anstrengung für ihn lohnt, ob er abends zufrieden heim geht. Auf dieser Reise hadere ich oft damit, dass die Ressourcen auf der Welt so ungleich verteilt sind. Dass manche Menschen jeden Tag körperlich an ihre Grenzen gehen und dafür fast nichts bekommen, während andere so hohe Gehälter beziehen, dass sie theoretisch ein ganzes Dorf versorgen könnten.
Tags darauf leihen wir uns Fahrräder und fahren zum Mondhügel. Den Anweisungen unserer Offline-Karte folgend, radeln wir durch das Verkehrschaos Yangshuos und Dörfer, neben denen riesige Ferienanlagen gebaut werden. Schon in den 1980er-Jahren war Yangshuo beliebt bei Backpackern aus dem Ausland. Heute zieht die idyllische Stadt, deren Karstberge es sogar auf den 20-Yuan-Schein geschafft haben, jedes Jahr Tausende ausländische wie inländische Touristen an.
Wir fahren weiter, vorbei an Mais- und Reisfeldern, Oleanderbüschen und Bambussträuchern. Im Schatten eines Pavillons machen wir eine kurze Pause, bevor wir am Fluss Yulong entlangradeln, auf dem sich Touristen in orangefarbenen Rettungswesten auf Bambusflößen treiben lassen. Während die Fahrer mit langen Bambusstöcken die Flöße steuern, sitzen sie unter bunten Sonnenschirmen auf Liegestühlen und machen Selfies.
Drei Kilometer später erreichen wir den Moon Hill. Wir schließen die Fahrräder am Fuß des Hügels ab und machen uns auf den Weg nach oben. „The mountains are high steep road“, warnt uns ein Schild am Geländer neben den Treppenstufen. Wir wollten ja nicht hören.