Höhenangst auf dem heiligen Berg

Kurz vor dem Ende der Wanderung bekomme ich doch noch Höhenangst. Als ich merke, dass das Profil meiner Sportschuhe auf dem glatten Stein wegrutscht und sehe, wie sich nur wenige Meter neben mir der Abgrund auftut, verabschiedet sich meine innere Ruhe. Mein Atem wird flacher, mein Herz fängt wild an zu schlagen. Wie ein aufgebrachter, kleiner Vogel flattert es von innen gegen meinen Brustkorb.

Zum Glück bemerkt Alex, wie sich die Panik in mir ausbreitet. Er nimmt mich an der Hand, führt mich über den schmalen Bergkamm zu einer Stelle, an der ich mich setzen kann. Nach ein paar tiefen Atemzügen geht es mir besser. Mein Puls wird langsamer, ich bekomme wieder Luft. Wir können weitergehen. Bis zum westlichen Gipfel, dem „Gipfel der Lotosblume“, ist es nur ein kurzer Aufstieg.

Der Hua Shan in der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi ist einer der fünf heiligen Berge des Taoismus. Im Westen ist er bekannt für den „wohl tödlichsten Klettersteig der Welt“: Auf 30 Zentimeter schmalen Holzplanken hangeln sich überraschend viele Wagemutige direkt am Fels entlang. Für eine halbe Stunde Nervenkitzel stehen die Menschen auf rund 2000 Metern Höhe Schlange. Und für ein Selfie, das Schwindel auslöst.

Auf den „Sky Walk“ trauen wir uns nicht. Wir wollen lieber die fünf Gipfel des Hua Shan erklimmen. Da wir nur ein paar Stunden Zeit haben, verzichten wir auf den mühsamen Aufstieg von der Talstation und fahren, wie die meisten anderen Touristen, mit der Seilbahn zur Station unterhalb des nördlichen Gipfels. Am „Gipfel der Wolkenterrassen“, auf 1561 Metern Höhe, beginnt unsere viereinhalbstündige Wanderung.

 

Der Hua Shan ist einer der fünf heiligen Berge des Taoismus.
Mit der Seilbahn fahren wir zur Station unterhalb des Nordgipfels.
Wanderwege führen zu allen fünf Gipfeln des Bergmassivs. Ein Großteil besteht aus Treppenstufen.
Das Wegenetz ist sehr gut ausgeschildert. Verlaufen kann man sich auf dem Hua Shan nicht.
Mit 2,6 Millionen Besuchern zählte der Hua Shan 2017 zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten Chinas.
Schlösser mit individueller Namensprägung zeugen davon, wie viele Menschen bereits auf dem Berg waren.
Der „Pass der goldenen Schlösser“ trägt seinen Namen zurecht.

Zwei Tage vorher kommen wir in Xi’an an. Die 4-Millionen-Einwohner Metropole liegt rund 500 Kilometer südwestlich der UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt Pingyao, deren mittelalterlichen Ortskern wir zwei Tage lang erkundet haben. Mit dem Zug erreichen wir Xi’an in gerade einmal drei Stunden. Die Stadt ist unser Ausgangspunkt für einen Besuch der berühmten Terrakotta-Armee und für die Wanderung auf den Hua Shan.

Wir übernachten bei Lingxiao, die zwei Räume ihrer unvorstellbar sauberen 4-Zimmer-Wohnung über Airbnb vermietet. Die 31-Jährige arbeitet als Videoredakteurin. Sobald sie abends nach Hause kommt, fängt sie an, Staub zu saugen und zu putzen. Und das, obwohl ihre beiden Katzen Kate und Ubei den Großteil des Tages in einem weißen Gitterkäfig verbringen, was mir fast das Herz bricht. Ich kann nicht anders: Ich lasse die Katzen jeden Morgen frei, bevor Alex und ich aus dem Haus gehen.

Lingxiao sagt dazu nichts – vielleicht, weil sie weiß, dass wir ihre Wohnung in wenigen Tagen sowieso wieder verlassen werden. Wie die meisten Chinesen spricht sie nur wenig Englisch. Deshalb unterhalten wir uns vor allem über die App WeChat. So kann Lingxiao auf dem Smartphone gleich die Wörter nachschlagen, die sie nicht kennt.

WhatsApp ist in China nicht verbreitet: Der Nachrichtendienst wird, wie viele Internetseiten, vom Staat blockiert. Wir benutzen eine VPN-App, um die Blockade zu umgehen. Das „Virtuelle Private Netzwerk“ erweckt den Anschein, wir würden uns in einem anderen Land befinden. Die Internetverbindung wird durch die App zwar sehr viel langsamer, dafür können wir wie gewohnt auf alle Apps und Webseiten zugreifen.

 

In Lingxiaos Wohnung könnte man bedenkenlos vom Boden essen.
Leihfahrräder gehören in Chinas Metropolen zum Stadtbild.

An unserem zweiten Tag in Xi’an fahren Alex und ich mit dem Bus nach Xiyang. Dort befindet sich das Mausoleum des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi, das von rund 8000 Terrakotta-Soldaten bewacht wird. Bauern entdeckten die Figuren 1974, als sie einen Brunnenschacht ausheben wollten. Bis heute sind nur etwa 2000 Krieger und Pferde ausgegraben. Der Grabhügel des Kaisers ist noch völlig unberührt. Die Archäologen wollen ihn zu einem späteren Zeitpunkt erforschen.

Wir folgen dem Rat des Lonely Planet und besichtigen zuerst die Halle 3, bevor wir mit den Hallen 2 und 1 fortfahren. Die Halle 1 ist die größte der drei Ausgrabungsstätten. Mit 230 Metern Länge und 62 Metern Breite gleicht sie einem Flugzeughangar. Wir bewegen uns um die Figuren herum, schauen von der Galerie, die sie umgibt, auf sie herunter. Um das Geländer drängen sich die Besuchergruppen, posieren vor den Ton-Soldaten, knipsen Selfies. Trotz des Rummels und der Lautstärke bin ich beeindruckt. Die schiere Zahl der Terrakotta-Krieger sowie die Präzision, mit der sie gefertigt wurden, faszinieren mich. Angeblich gleicht keine Figur einer anderen.

 

Im „Museum der Terrakotta-Armee“ sind neben Ton-Figuren auch Waffen und Streitwagen aus Bronze ausgestellt.
Die Halle 1 ist die größte der zugänglichen Ausgrabungsstätten.
Rund 2000 Terrakotta-Soldaten sind bereits ausgegraben. Mehr als 6000 werden noch in der Erde vermutet.
Angeblich gleicht kein Krieger exakt einem anderen.
Bis heute arbeiten die Archäologen daran, weitere Figuren freizulegen.
Sobald sie ausgegraben worden sind, …
… werden die Soldaten grob zusammengesetzt.
In mühevoller Kleinarbeit fügen die Archäologen die Einzelteile zu einem Ganzen.

In Xi’an schauen wir uns abends den beleuchteten Glockenturm und den Trommelturm an, bevor wir uns in das Gedränge des muslimischen Viertels wagen. Die Beiyuanmen-Straße ist rechts und links gesäumt von blinkenden Schildern, Restaurants und Essensständen. Es gibt Spieße mit Fleisch, Krabben und Tintenfischen, gefüllte Dumplings und geschmorte Schweinehaxen. Hin und wieder teilen Rollerfahrer laut hupend die Menschenmenge.

Schon nach wenigen Minuten setzen wir uns in ein Restaurant mit harten Holzbänken und bestellen Liangpi: kalte Nudeln mit Gurken und einer scharfen Sauce. Anschließend schlendern wir weiter durch die Straßen, probieren vegetarische Dumplings, süße Klebreis-Spieße und Shi Zi Bing: warme Persimonen-Küchlein, die einen zuckrigen Kern haben.

 

Am 1384 erbauten Glockenturm laufen die Nord-, Süd-, Ost- und Weststraße zusammen.
Die Beiyuanmen-Straße im muslimischen Viertel ist links und rechts von Essensständen gesäumt.
Fleischspieße-Stand: Lust auf Krabbe?

Tags darauf brechen wir um 8 Uhr auf. Mit dem Zug fahren wir nach Hua Shan North. Die Fahrt dauert nur eine halbe Stunde. Fast genauso lang sind wir mit dem kostenlosen Shuttlebus unterwegs, der uns vom Bahnhof zum Besucherzentrum am Fuß des Berges bringt.

Der Eintritt kostet rund 23,50 Euro pro Person (180 Yuán), für den Bus zur Talstation und die Seilbahnfahrt zahlen wir noch einmal um die 30 Euro. Inklusive der Anfahrt mit dem Zug ist der Tag auf dem Hua Shan bislang einer der teuersten Tage unserer Reise, aber auch einer der schönsten.

Schon als wir aus der Seilbahn aussteigen, sind wir von der Aussicht überwältigt. Viele der Felswände ragen fast senkrecht aus der Tiefe, die beigefarbenen Gipfel sind von dunkelgrünen Pinien bestanden. Wir erklimmen als Erstes den „Gipfel der Wolkenterrassen“, der sich nur ein paar Meter hinter der Seilbahnstation befindet. Danach machen wir uns auf den Weg zum „Gipfel des Sonnenaufgangs“ im Osten des Hua Shan.

Dazu müssen wir zunächst einen schmalen Bergkamm überwinden. Rechts und links des Geländers geht es mehrere hundert Meter steil nach unten. Langsam steigen wir die Treppenstufen hinauf. Ich versuche, nicht zur Seite zu gucken, doch schon bei dem Gedanken an den Abgrund neben mir klopft mein Herz ein bisschen schneller. Einige Wanderer haben noch größere Probleme mit der Höhe. Eine junge Frau in Jeans und weißen Handschuhen krabbelt auf allen vieren die Treppe nach oben.

Andere scheinen weder Probleme mit der Höhe noch mit dem Untergrund zu haben: Wir begegnen Frauen, die in Sandalen, Ballerinas und sogar in Stöckelschuhen unterwegs sind. Was für diese Wanderung gar nicht so hinderlich ist, wie wir am Anfang dachten, da fast das gesamte Wegenetz aus Treppen besteht.

 

Wandern mit Höhenangst: Auf allen vieren krabbelt diese junge Frau die steile Treppe nach oben.
Vesperpause auf dem Ostgipfel. Viereinhalb Stunden brauchen wir insgesamt für die Wanderung.
Lange Zeit galt der Hua Shan als unzugänglich. Nur erfahrene Wanderer wagten sich auf den Berg.
Mit knapp 2155 Metern ist der Südgipfel der höchste der fünf Gipfel des Hua Shan.
Auf dem Hua Shan stehen zahlreiche Tempel, Klöster und Pagoden. Der Schach-Pavillon befindet sich nahe des Ostgipfels.
Geschafft! Kurz vor dem Ausgangstor unterhalb des Westgipfels.

Was uns außerdem auffällt: Die Wanderwege sind sehr sauber. Selbst in den Bergen räumen die Müllmänner und -frauen Chinas von morgens bis abends den Abfall zur Seite. Die Plastiktüte, die ich vor jeder Wanderung einstecke, um unterwegs herumliegenden Müll einzusammeln, kann ich auf dem Hua Shan im Rucksack lassen.

Auf dem Plateau des Ostgipfels packen wir unser Vesper aus. Wir essen belegte Brote, Birnen und Müsliriegel. Gestärkt wandern wir zum 2155 Meter hohen „Gipfel der Gänselandung“, dem höchsten der fünf Gipfel des Hua Shan. Den „Gipfel der Jadefrauen“ in der Mitte des Bergmassivs lassen wir spontan aus. Wir haben Angst, die letzte Seilbahn zu verpassen.

Wir erreichen sie, ganz ohne Zeitdruck. Gegen 17 Uhr fahren wir von der Station unterhalb des „Gipfels der Lotosblume“ ins Tal. Die Fahrt dauert 20 Minuten, die Aussicht ist selbst von der Gondel aus noch atemberaubend.

Nach zwei Busfahrten, einer Zugfahrt, einer U-Bahn-Fahrt und 20 Minuten Fußweg kommen wir gegen 21 Uhr am Ende unserer Kräfte in Lingxiaos Wohnung an. Noch bevor wir die Türe öffnen, hören wir den Staubsauger.

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